Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2020 10 Apr

Aus den Karpaten in den US-amerikanischen Süden

von: ijb Filed under: Blog | TB | 2 Comments

Da ich unlängst mal wieder Geburtstag hatte, aber aufgrund des Kontakt- und Reiseverbots seit Wochen kaum jemanden gesehen habe und auch etliche Gesprächsverabredungen mit Musiker/innen geplatzt sind, habe ich zur Feier des Tages mal wieder ein wenig Geld „investiert“, um ein paar ECM-Alben käuflich zu erwerben, nachdem mir schon etliche der Veröffentlichungen „fehlen“, die von anderen Autoren hier geschätzt werden, etwa die Trios von Carla Bley und Joe Lovano, Trio Tapestry. (Sowohl mit Lovano als auch mit Marilyn Crispell hatte ich darüber hin- und hergeschrieben, bei den Aufnahmen des Nachfolgealbums in Lugano als Dokumentarist dabei zu sein, nachdem zum Triodebüt ein Bekannter der beiden, ein New Yorker Filmemacher, eine kleine Doku zum Album gemacht hatte. Aber leider wurde nichts draus.) Der Postversand dauert ja derzeit deutlich länger als gewohnt; daher sind die Alben noch nicht bei mir eingetroffen.

Ein paar andere Labels schicken mir hingegen nach wie vor eine Auswahl oder den Großteil ihrer jeweils aktuellen Veröffentlichungen zu, selbst wenn es keinen „nordischen“ Bezug gibt. Über Edition habe ich ja bereits ein paar Mal geschrieben, über RareNoise schrieben ein paar andere Mitautoren mit Begeisterung, aber BMC fand auf diesen Seiten meines Wissens noch nie Erwähnung. „BMC?“ werdet ihr fragen… „Nie gehört.“ Ja, das Label Budapest Music Center Records bot mir etliche Male an, auf Wunsch Alben zu schicken; nun habe ich das Angebot endlich mal angenommen – und gleich eine ganz wunderbare Entdeckung gemacht: Miklós Lukács und sein Cimbiosis Trio spielen eine Art Jazz, mit dem sie deutliche Bezüge zu Volksmusik herstellen sowie darüber hinaus auch zu Bartók, mit dessen Kompositionen Lukács in der Vergangenheit ebenfalls ein Album in einer (anderen) Triobesetzung (mit Violine und Kontrabass) aufgenommen hat.

Bislang kannte ich Lukács nur (am Rande) aus der Band auf einem fantasievollen Konzertalbum von Charles Lloyd (auf dem nebenbei bemerkt auch der Grieche Sokratis Sinopoulos mitspielt), aber er hat zuletzt auch mit anderen ECM-Bekannten zusammengespielt, da gab es vor wenigen Jahren noch ein anderes Trioalbum (Cimbalom Unlimited) mit Larry Grenadier und Eric Harland, das ich mir nun auch noch besorgen muss. (Und in einem wieder anderen Ensemble spielt Miklós Lukács eine andere internationale Kollaboration mit Johnathan Blake, Román Diaz und Rogério Boccato.) Überhaupt hat sich Lukács in den letzten 20 Jahren eine beeindruckend umfangreiche und vielfältige Diskografie zusammengespielt, sein brandneues Album mit dem Cimbiosis Trio, das den sehr schönen Titel Music From The Solitude Of Timeless Minutes trägt, macht auf mich auch den intensiven Eindruck einer lange gewachsenen künstlerischen Verdichtung und Meisterschaft, die heitere kleine Geschichten ebenso wie dramatische Momente versiert innerhalb eines größeren erzählerischen Bogens verzahnt. Ohne dass ich viel von seinem bisherigen Schaffen kenne, scheint dieses Programm, das eine achtteilige Suite (zusätzlich noch in Part 1 und Part 2 unterteilt) von einer großen Klarheit der eigenen individuellen Klang- und Kompositionssprache gezeichnet Ich liebe sowas. Ich freue mich immer, wenn ich eine musikalische Klang- und Ideenwelt entdecke, die so vollkommen anders ist.

Einen wesentlichen Anteil daran hat natürlich schon die Wahl von Miklós Lukács’ Instrument: Das Zymbal (wahlweise auch Cimbalon oder Cymbalom) ist die auf dem Balkan, in der Folklore der karpatischen Landschaft verbreitete Abwandlung des Hackbretts. Für mich klingt es, vielleicht auch wegen der Spielmöglichkeiten mit einem Pedal, oft wie ein ins Surrealistische gleitender Cousin des Vibrafons. Jedenfalls dringen auf diesem Album, auf dem Lukács mit dem Kontrabassisten György Orbán und dem Schlagzeuger István Baló spielt, eine Vielzahl von Assoziationen ans Tageslicht. Für ein Stück wird übrigens auch hier eine kleine ECM-Verwandschaft erwähnt: György Kurtág Jr. wird für die „heartbeats“ gedankt.

 
 


 
 

Ein weiteres, ebenfalls ungewöhnlich besetztes Kammerensemblealbum einer mir bislang ebenfalls unbekannten Musikerin entdeckte ich durch eine nachdrückliche Empfehlung: Julie Campiche kommt aus der Schweiz und spielt Harfe – mit Effekten. Auf ihrem neuen Quartettalbum Onkalo (aufgenommen im Studio La Buissonne) spielt sie mit Saxofonist Leo Fumagalli, Kontrabassist Manu Hagmann und Schlagzeuger Clemens Kuratle, und auch die drei Musiker ergänzen ihre Instrumente mit elektronischen Effekten. Interessanterweise entsteht dadurch aber keineswegs ein aufgepeitschtes, gar noisiges Free-Jazz-Werk, sondern ein raffiniert unkonventioneller elektro-akustischer Klangspielraum mit viel Transparenz und Poesie zwischen Genre-Kategorien, wie man es gelegentlich speziell aus der norwegischen Szene kennt. Die weitgehend langen Stücke (zwischen 7 und 12 Minuten) sind ganz wunderbare Entdeckungsreisen in einen sehr gegenwärtigen Jazz, der mit Texturen arbeitet und seinen teilweise etwas treibenderen Passagen auch „Post-Rock“-Qualitäten hat. Sehr faszinierend, aber auch recht eingängig und melodisch geschickt.

Noch etwas ganz anderes ist das neue, bereits fünfte Album von Waxahatchee alias Katie Crutchfield aus Birmingham, Alabama, einer Stadt, die den meisten wahrscheinlich allenfalls für ihre zentrale Rolle in der Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre bekannt ist (ansonsten kann man noch Sun Ra, Angela Davis, Condoleezza Rice und Emmylou Harris als Söhne und Töchter  Birminghams einordnen). Die 31-jährige Songwriterin lebt mittlerweile in Kansas City, nennt ihr Projekt seit 2010 nach dem Waxahatchee Creek aus ihrer Heimatgegend, und das gerade erschienene Saint Cloud ist das erste seit ihrem zweiten Album Cerulean Salt, das durchweg begeisterte Besprechungen bekommt. Nun muss ich mir doch mal die beiden Alben dazwischen, die ich ausgelassen habe, besorgen, denn der Weg von ihren rauen Low-Fi-Akustik-Songs auf dem Debüt American Weekend über den sehr eingängigen Alternative/Indie-Rock auf dem Zweitling, der sehr an die früheren Alben von Cat Power, an Sleater-Kinney und die Breeders, aber auch ein wenig an Velvet Underground erinnerte, ist doch ein recht weiter zu diesem souverän gesponnenen Songalbum der Kategorie Americana, Folk und Country-Rock.

 

Americana ist meiner Meinung nach aus einer rebellischen Haltung heraus entstanden. Leute wie Lucinda Williams oder Jason Isbell. Das sind Leute, die nicht in die Radio-Country-Schublade reinpassen. Weder musikalisch noch politisch. An sich ist das ja auch Punk. Ich bin mit Country von Loretta Lynn aufgewachsen. Dann kamen ‚teenage angst‘, Punk-Ethos und -Musik und ich begann viele Dinge am Süden zu verachten. Unter anderem Country. (…) Ich hatte bei ‚Saint Cloud‘ das erste Mal das Gefühl, nicht gegen irgendetwas ankämpfen zu müssen. Das war eine gewisse Rückkehr zur Ursprungsform. (Spex-Interview)

 

Ich habe mindestens vier sehr unterschiedliche Rezensionen gelesen, die von Saint Cloud aus mühelos Bob-Dylan-Parallelen ziehen. Der Musikjournalist des britischen Guardian nennt das Album sogar „the best album of the year so far“ und kommentiert: „With tracks that nestle in heartache and bask in hard-won wisdom, this is an artefact of American song that measures up to Dylan at his peak.“ Große Fußstapfen also, aber Crutchfield selbst war erklärtermaßen von Lucinda Williams großem Durchbruchalbum Car Wheels on a Gravel Road beeinflusst, über das sie anlässlich des 20. Jubiläums vor knapp zwei Jahren einen Ehrungstext schrieb; auch hat sie schon Songs von Williams gespielt, und eine erstaunliche Nähe zu der älteren, einflussreichen Kollegin entdeckt:

 

It’s hard to talk about this record without talking about Lucinda Williams. A lot of different songwriting and storytelling techniques on ‚Saint Cloud‘ are borrowed from Lucinda. Her ability to put you in a place that you’ve never been is pretty unparalleled. A lot of these songs jump around from place to place, they flash back to 10 years ago and then come to the present day. (Pitchfork-Interview)

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2 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    A long and winding road, indeed. Through landscapes, labels, old and new. The first stage of my journey will be the last one of yours, „Saint Cloud“. Hope, she is not too close to Lucinda who has accompanied me for so long now. Unforgettable her concert in Cologne, years ago, and listening to ESSENCE on a deserted area of a Spanish island….

    Speaking of women with a gift for singing and songwriting, I yesterday came upon the new Laura Marling album. A bit more of a Joni Mitchell vibe than usual, but, again, damned good…

  2. Olaf:

    Waxahatchee und Pulled By Magnets ploppen momentan immer wieder auf meinem Radar auf, mal sehen, wann ich mich mit denen beschäftige.


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