Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2020 14 Mrz

Precht Han Hirten

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 5 Comments

 
 

Zwei Kobolde begleiten mich stets, flüstern mir zuverlässig ins Ohr. Auf meiner schmalen rechten Schulter sitzt leicht zusammengekauert Frank Asperger, schüchtern und seriös, rausgeputzt in feinem Zwirn. Auf der etwas breiteren, linken sitzt ein namenloser Frechdachs mit Tourette-Syndrom. Nun ist das Koboldhafte sowenig allein mein Brevier, wie es die multiplen Persönlichkeiten sind oder die polymorph perversen Spielarten (Kraft-Ebbing hätte seine helle Freude angesichts dessen, was sich auf den digitalen Pornoseiten offenbart und jeden restriktiv scheinheiligen Saubermann gründlichst blamiert). Was auch so manchem Manafonisten vertraut vorkommen mag, fand literarische Bezüge schon bei Pessoa oder Musil (a man without qualities) und auch in der aktuelleren Frage: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Womit wir wiedermal bei Richard David Precht wären. „Enttäuschung, Laberkopf, Alleserklärer!“ krächzt das leibhaftige Tourette-Syndrom an meiner Seite. Ganz ruhig, gemahne ich, wir möchten uns zunächst ein Bild verschaffen. „Sinnlose Zukunftsträume, unrealistisches Grundeinkommen!“ geht es vorlaut weiter. Ich verpasse dem Frechdachs eine Valium, damit ich und mein Herr Asperger uns konzentrieren können – meine Güte, wir sind doch nicht im Kindergarten! Also, der Reihe nach: eigentlich nämlich sind die medial-öffentlichen Auftritte und Äusserungen des genannten Bestseller-Philosophen sehr angenehm, da sie wichtige Zeitgeist-Themen präzise und wortgewand auf den Punkt bringen, gleich ob es um „Digitalisierung“ geht, um das Bedingungslose Grundeinkommen, den problematischen Fleischkonsum oder anderes. So lockte mich sein aktuelles Buch nun: Jäger, Hirten, Kritiker. Unbestritten sind auch hier wichtige Aspekte und gute Gedanken aneinander gereiht. Im üppigen Literaturverzeichnis suche ich nach Byung-Chul Han, finde ihn dort nicht. Nanu? Etwas trotzig nehme ich dessen Buch Im Schwarm aus dem Regal, das ebenso kritische Aspekte der Digitalisierung betrachtet, stilistisch aber geradezu kontrapunktisch angelegt ist verglichen mit Prechts utopischer Gedanken-Schau. Sieh an! Gleich einem Chirurgen ist Hans Vorgehen punktgenau, präzise und minimal-invasiv. Solche extrem kurz gefassten Sätze bilden ein Novum in der Szene und sind ein Affront gegen allseits bekannte raunende Jargons oder ausufernde Weitschweifigkeiten. Mir gefallen ja jene Bücher, die dem Leser Raum lassen für eigene Gedanken und Schlussfolgerungen. Precht hingegen ist Pädagoge. Im passenden Setting, im Klassenraum etwa oder in der abendlichen Talk-Show mag das seine Berechtigung haben. Freikarten fürs Hirn bietet aber eher Han. Wie auf dem Rummel („Ischa Freimarkt!“) heisst es dann: noch einmal in die Achterbahn, es war so schön. Hier macht sogar die Wiederholung Spass, Monotonie bleibt aussen vor, weil eigene Gedankenspiele und die Einbildungskraft kaleidoskopisch mitschwingen. Deshalb, auf Reisen oder im Wartezimmer einer Arztpraxis habe ich stets meinen Han dabei, denn es ist gut zu wissen: nur ein, zwei Sätze lesen und schwupps driftet man ins Eigene ab. „Kein roter Faden!“ Auf meiner linken Schulter regt sich was, das Valium lässt nach, vertrautes Blöken macht sich breit. „Blödmann, Blogger, Laberkopf.“ Ich werde das Notierte trotzdem posten, mich nicht beirren lassen. Frank Asperger stimmt zögernd zu. Auch er kennt seine Gründe.

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5 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    „Freikarten fürs Hirn bietet aber eher Han.“

    „Mir gefallen ja jene Bücher, die dem Leser Raum lassen für eigene Gedanken und Schlussfolgerungen. Precht hingegen ist Pädagoge.“
     
    Nun, gute Pädagogen lassen natürlich auch Raum. Aber klar scheint, was gemeint ist. Prechts Erstling mit dem berühmten Titel war für mich ungeniessbar, weil extrem schlecht geschrieben, es wirkte auch zusammen geschustert. Es war damals ein beliebtes Geschenk, ich las etwa 25 Seiten, dann wusste ich: nein, danke. Kein guter Pädagoge. Eher oberschlau sich gebend, als Sinn-Verwalter.

    Da lobe ich meine Erinnerung an Störigs kleine Weltgeschichte der Philosophie. Es wurde in einer anderen Zeit geschrieben, aber öffnete mir tatsächlich manchen Raum zum Denken.

    Dort fand ich die Vorsokratiker, denen der Monat März vorbehalten ist in unserer neuen Kolumne Philos & Psyche. Den Vorsokratikern, Epikur et al., begegnete ich später immer wieder, interessant abgewandelt und fortgeführt in der Kognitiven Verhaltenstherapie.

    Zu Han kann man wahrscheinlich gut MIXING COLOURS oder DISCREET MUSIC auflegen: je nach Auf- und Abtrieb der Gedanken ist der Text mal Vorder-, mal Hintergrund. Eine Art „ambient philosophy“, die wohl eher Räume öffnet statt vollstellt.
     
    P.S. … natürlich kann dieses Buch von Herrn Precht ganz interessant sein, aber es wird mir nicht nahekommen. Allein, weil jeder seine eigenen Filter hat, in der unendlichen Welt der Bücher.

    Und es ging in diesem Text ja auch um anderes.

    Um Kobolde etwa, um Räume (thinking space), und um Valium.

  2. Jan Reetze:

    Mir gerade zufällig zugeflogen:

    „Ich bin froh, dass ich ein Philosoph bin und kein Wissenschaftler, der seine Thesen mit irgendwelchen empirischen Studien, Hunderten von Spezialbegriffen und vermeintlich wissenschaftlichen Diagrammen belegen muss.“

    (Richard David Precht im Kölner Stadt-Anzeiger.)

  3. Lajla:

    Immer wenn ich an der Haustür von Herrn Precht vorbeigehe, summe ich das Kinks Lied „My Nextdoor Neighbour“:

    We win and lose, we laugh and cry
    Live and learn, at last we try
    Oh, give it a try …

    Herr Precht ist Radfahrer, das ist schon mal gut. Herr Precht trägt ein Fussballtrikot, auch gut, kommt aber noch ein klein wenig auf den Verein an. Das muss ich noch herausfinden. Herr Precht schreibt Bücher, die ich nicht lese, die mich aber in ihrer soziologischen Aussenwirkung interessieren.

    Mit seinem pädagogischen Zeigefinger mahnt er aus seiner linkstendenziösen Sozialisierung. Schreibt er Schulbücher? Vorlagen für Seniorenuniversität? Sollte ich meinem nextdoor neighbour auf dem Fahrrad begegnen, bremse ich, lass meinen Rennradhandschuh fallen – ganz Ingeborg Bachmann Kopie – und frage ihn dann: Für wen schreiben Sie?

  4. Jochen:

    @ Lajla

    Würde mich nicht wundern, wenn er dann antwortete: „Für mich.“

  5. Lajla:

    Jochen, heute habe ich ihn knapp verpasst. Er war in meinem Stammcafé und hätte sich darüber beschwert, dass es auch noch andere wichtige Themen als Corona gebe. Ich hätte ihm zugestimmt.


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