Vor Jahren war ich mal auf dem Weg zu jener Kirche im Norden Londons, in dem dieses beeindruckende Werk aufgenommen wurde. Oder verwechsle ich da zwei Räume der Andacht und des Rückzugs? Es war der Abend des Tages, an dem ich Scott Walker besucht hatte, es regnete unaufhörlich, und irgendwann war klar, ich würde es nie zeitig dorthin schaffen: ich schaffte sonst alles mögliche in jenen drei Londoner Tagen, ging unfotografiert über den berühmten Zebrastreifen von Abbey Road, stöberte in einem Plattenladen nach alten Vinylschätzen, und sah abends vorm Einschlafen die eine und andere Folge von „Longmire“.
In der Kirche im Londoner Norden liess Scott Walker seine Zusammenarbeit mit Sunno))), „Soused“, laufen, als „release party“, über mächtige Lautsprecher. Ich stellte mir das wundervoll vor, dieses dunkle dröhnige Werk mit Donnerhall in mich aufzunehmen, aber es sollte nicht sein. Ich verirrte mich auf halbem Weg.
Nun also lausche ich Musik, die tatsächlich in dem Gemäuer in Stoke Newington entstanden ist. Und das, auf alten Fotos, jeder Gespenstergeschichte gutgetan hätte. Wenn der Drummer Sebastian Rochford ein neues Projekt auf die Beine stellt, bin ich immerzu gespannt, und werde seit den Zeiten der Bands „Acoustic Ladyland“ und „Polar Bear“ nicht enttäuscht. „Same As You“ ist eines meiner Lieblingsalben vom „Polarbären“, und entführt tief in die Mojave Wüste. Nicht viele können behaupten, mit Brian Eno in Notting Hill und Manfred Eicher in Lugano Musik aufgenommen zu haben. Aber das ist nur eine witzige Randnote.
Der Schlagzeuger suchte jedenfalls mit Energie nach einem „power spot“ für sein Trio „Pulled By Magnets“, in dem die drei Akteure Schlagwerk, Saxofon und E-Bass spielen, zudem ihre Klänge mit allerlei Elektronik verwandeln, verbiegen, verrauschen – es gibt keine Gewissheit für den reinen Instrumenenklang. Und er fand seinen „Ort der Kraft“.
Werfen wir mal einige Wörter in die Luft, die bei solcher Wucht die Runde machen: Grime, Drone, Free, Far Out, Improv, Gothic, Hypnos, Raga. In manchen Passagen klingt es wie eine radikalisierte Version von Bohren & Der Club of Gore, in anderen, als träume Brian Eno von einer expressionistischen Variante von Ambient Music, und würde nur deshalb nicht am Mixing Board sitzen, weil die Musiker und das Kirchenschiff alles selbst regeln.
Ähnlich wie bei seinem einstigem Mitstreiter Shabaka Hutchings, spielen auch bei „Pulled By Magnets“ die „ancestors“, die Vorfahren eine Rolle, und so, wie Shabaka und seine südafrikanischen Freunde bis in die Karibik, bis nach Jamaika blicken, um einigen „nyabhingi“-Wurzeln und anderes Groovekraut anzuzapfen, nimmt Sebastian auf sehr, sehr sublime Weise Klangspuren Klassischer Indischer Musik auf (er hat einen Familienstammbaum, der eben auch ins ferne Asien reicht).
Da wird keine Ragamusik imitiert, eher schon ein ferne, verblasste Erinnerung an das Schnurren der Tamboura in ein archaisches Soundgeschehen made in London transportiert. Die Einflüsse sind weit gestreut, ich erfahre, dass Mr. Rochford im Vorfeld der Produktion auch alte Beduinentexte studiert hat. Ist der Jazz, wenn das mal Jazz ist, nicht auch, irgendwie, Geheimwissenschaft?
Die Musik des Trios ist ungemein wandlungsfähig, auch Pete Wareham am Saxofon schreit und wildert nicht in Free Jazz-Arealen, wie man ahnen mag, wenn es, wie hier, keine Kompromisse gibt. Eher ist sein Spiel gebündelt, er lässt Sounds ins verwinkelte Rund schallen, folgt dem Echo, als gebe es kein gestern, kein morgen. Alle Drei, auch Neil Charles, der kundige Dritte, der Mann am E-Bass, fühlen sich sauwohl in diesem Szenario, in dem jeder Sound seine eigene Strahlkraft besitzt, und doch, von einer Sekunde zur andern, verloren gehen kann. Und was hat es mit den Pforten, Schwellen, Durchgängen auf sich, die im Titel anklingen: „Rose Golden Doorways“? Hat man so etwas schon mal gehört?!