Bye bye und Gute Reise, wohin auch immer sie gehen mag …
on life, music etc beyond mainstream
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Katie Gately hat aufgeräumt. Die klangliche Überdrehtheit ihres Debütalbums Color im Herbst 2016 konnte einen wahnsinnig machen, wenn man sich gerade nicht auf der richtigen Wellenlänge befand. Es hat ein paar Jahre gedauert, doch nun ist endlich der Nachfolger da – und die CD trägt den Titel Loom (Webstuhl). Wer in den frühen Neunzigerjahren jugendlich war und „Adventure“-Computerspiele am PC spielte, verbindet mit „Loom“ lebenslang das radikal besondere, märchenhafte Grafikadventure der Firma Lucasfilm, bei dem der Spieler die Handlung nicht mit den üblichen Aufforderungen in Verbform, sondern durch zu spielende Melodien vorantreibt, die man im Verlauf der Geschichte erlernen muss. Keine Ahnung, ob Katie Gately das Spiel kennt; ihr Albumcover zeigt eine komplett zerlegte Fabrikhalle, aber ob da einst Webstühle drinstanden…? Womöglich wurde das Foto aus eher ästhetischer Motivation gewählt. Letztlich ist es auch ein angemessenes Bild für den Tod ihrer Mutter im Jahr 2018. Die Diagnose der Krebserkrankung war wesentlicher Ausgangspunkt für die Arbeit an diesem Album.
Wie Color hat Loom eine Gesamtspielzeit von 42 Minuten, und wieder gibt es Songs mit kurzen Titeln, aber teils epischer Länge. Allerdings steht der Gesang diesmal mehr im Vordergrund; die komplexe Instrumentierung und die extravaganten Rhythmusbasteleien wurden deutlich vereinfacht und auch transparenter gemischt, doch die ambitionierte Erzählhaltung bleibt dieselbe. Gately möchte ihre ganz eigene, neue Art von Songs erarbeiten, die zwar Avantgarde sind, aber diesmal um einiges eingängiger als zuletzt. Es ist also viel passiert in den etwa drei Jahren. Zwischenzeitlich durfte sie Remixes für Björk und Zola Jesus machen und einen Teil des vielgelobten Debütalbums ihres Landsmanns Josiah Wise, der unter dem Alias serpentwithfeet in Erscheinung tritt, produzieren – und dabei hat sie dessen Gospel-/Soul-Songs mit ihrer wilden Soundästhetik aufgekratzt. Daher klebt auf der CD lustigerweise gleich der Hinweis, dass es sich bei Katie Gately um die serpentwithfeet-Producerin handelt – als wäre das eine entscheidende Verkaufshilfe.
Ein schöner Einstieg in den Kosmos von Loom ist der Song Waltz, früher hätte man gesagt: die Single – zu der es auch direkt ein eindrucksvolles Musikvideo von der jungen Regisseurin und Performerin Samantha Shay gibt, die schon mit Marina Abramovic arbeitete und auch sonst viel mit Musiker/innen macht. Auf ihrer Webseite steht, dass sie „multisensorische, poetische Landschaften schafft, die an lebendige Träume erinnern und wie eine willkommene Halluzination auf den Körper wirken.“ Auf Waltz trifft diese Beschreibung jedenfalls sehr gut zu. Der Song ist inspiriert von Leonard Cohens Take This Waltz, dem Lieblingslied ihrer Mutter, das Gately 24 Stunden lang in Schleife gehört haben soll, bevor sie ihr eigenes Stück ausarbeitete. Katie Gately zog für die Arbeit an diesem Album von Los Angeles zu ihren Eltern nach Brooklyn um, wo sie meist nachts an der Musik arbeitete. In den wenigen Presseinformationen, die ich finden konnte, ist zu lesen, dass die verschiedenen Stücke „Personifikationen“ seien oder „abstrakte Gefühle“ aus dieser Zeit beschreiben. Das kann dann aber auch mal die Sicht der Mutter einnehmen oder gar die Perspektive der Krebskrankheit oder der Medikamente. Liest man, dass Samples wie die Schreie eines Pfaus, heulende Wölfe, das Geräusch vom Schließen eines Sarges oder des Schüttelns von Pillenbehältern und sogar Erdbeben auf der Platte zum Einsatz kommen, wird man, gerade auch nach Color, ein weitaus geräuschhafteres und extremeres Album vermuten, als Loom, das oftmals sogar gerade poetisch und sanft schillernd songhaft geworden ist, tatsächlich klingt. Und vor allem ist es alles andere als derart düster.
Ich empfehle einen Ausflug in die musikalische Welt von Katie Gately jedem, der die Popmusik der Zukunft sucht. Ihre reiche, sehr zeitgemäße Songkunst könnte ein Weg dorthin sein.
2020 10 Jan
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Das normale literarische Lesepublikum, das sich seinen Stoff in Buchhandlungen oder im Internet besorgt, hat meist keine Ahnung von der Existenz einer enormen Vielfalt an Literaturzeitschriften, die sich in einer Art Zwischenzone befinden. Vielleicht kennt man aus einer guten Buchhandlung Zeitschriften wie Sinn und Form oder Neue Rundschau, aber ich spreche hier von Magazinen, die manchmal in einer Auflage von weniger als hundert Stück erscheinen und die einzig vom Engagement der Redaktion leben und davon, dass Autorinnen und Autoren ihre Texte ohne Honorar zur Verfügung stellen und sich trotzdem unglaublich freuen, Teil von etwas zu sein. Mit der Verbreitung des Internets seit der Jahrtausendwende kamen Onlinemagazine dazu. Ich habe diese Welt erst entdeckt, als ich zu schreiben begann und erste Publikationsmöglichkeiten suchte. In Handbüchern für Autorinnen und Autoren, zum Beispiel in dem Standardwerk, das Sandra Uschtrin seit Jahrzehnten herausgibt, findet sich immer auch ein Kapitel mit einer Übersicht von Literaturzeitschriften. Der Schriftsteller Arno Dahmer hat im vergangenen Jahr eine Online-Literaturzeitschrift für kürzere Texte gegründet.
Martina Weber: Arno, du hast vor drei Jahren deinen Erzählungsband Manchmal eine Stunde, da bist du im Mirabilis Verlag veröffentlicht und im vergangenen Jahr die Online-Literaturzeitschrift Das-Prosastück.de gegründet. Mittlerweile sind zwei Ausgaben erschienen, die erste am 20. Juli und die zweite am 30. Oktober. Auf der Website schreibst du, du möchtest „Prosa fürs Ohr“ vorstellen. „Kürzere Texte, die sich durch Sprachmusikalität auszeichnen: Prosagedichte, Prosaskizzen oder auch in sich geschlossene Auszüge aus Längerem.“ Wie bist du auf die Idee gekommen, eine Literaturzeitschrift zu gründen, und wieso dieses Profil?
Arno Dahmer: Die Idee ist vor allem aus Leseerfahrungen entstanden, denn ich schätze Texte dieser Art besonders. In meiner Schulzeit diktierte uns ein Lehrer mal ein Stück aus Thomas Manns kurzer Erzählung „Enttäuschung“ – was eigentlich wohl geschah, um die Zeichensetzung in langen Sätzen zu üben, für mich aber eine Art literarisches Erweckungserlebnis war: Mir wurde bewusst, wie herrlich eine Prosa sein kann, die dicht und melodisch ist. Später habe ich dann mit Begeisterung Gottfried Benns „Gehirne“ gelesen, die (wenigen) Prosagedichte Stefan Georges und viele von den Prosastücken Robert Walsers – um nur einige Werke bzw. Autoren herauszugreifen, die zu dem Entschluss beigetragen haben mögen, „Das Prosastück“ zu gründen. Einer meiner Lieblingsschriftsteller – das muss ich in diesem Zusammenhang noch loswerden – ist Peter Kurzeck (1943-2013), der Romane schrieb, aber in einer ausgesprochen musikalischen, leicht experimentellen Sprache.
Ein anderes Motiv dafür, eine derartige Zeitschrift ins Leben zu rufen, war, dass ich lyrische Prosa – speziell kurze Texte dieser Art – für eine zu wenig beachtete und in gewisser Weise verkannte literarische Gattung halte. Die reine Lyrik hat immerhin ihre gut ausgebaute Nische: Es gibt Lyrikwettbewerbe, -festivals, -zeitschriften, sogar Lyrikverlage. All dies existiert für die lyrische Prosa nicht oder nur in geringerem Maße. Auf der anderen Seite passt sie aber auch nicht so recht zu einem weitverbreiteten Verständnis von Prosa, dem zufolge ein Prosatext eine Handlung und einen Länge von mehreren Seiten haben muss bzw. ansonsten etwas Unfertiges und/oder Läppisches ist – so als wäre Kurzprosa etwas, das immer nur als Fingerübung oder als Nebenprodukt auf dem Weg zum Roman oder zur längeren Erzählung entsteht. – Mit dem „Prosastück“ hoffe ich, eine Plattform schaffen zu können, auf der lyrische Prosa nicht am Rand, sondern im Zentrum steht, einen Rahmen, in dem sich im Idealfall der Reiz solcher Texte auch Lesern erschließt, die bisher wenig oder keine Berührung damit hatten. Abschließend möchte ich zum Konzept der Zeitschrift noch anmerken, dass zwar der Schwerpunkt auf lyrischer Prosa liegen wird, klassisch erzählte Kurztexte deshalb aber nicht prinzipiell ausgeschlossen werden sollen – siehe die Geschichte von Ralf Schwob in Ausgabe 2.
MW: Wie bist du vorgegangen, nachdem die Idee und der Plan da waren? Hast du dich erst um den technischen Aspekt des Aufbaus einer Internetseite gekümmert oder um die Textsuche, oder ging das parallel?
AD: Das lief parallel. Bzw. hatte ich mit dem technischen Aspekt wenig zu tun, weil eine Webdesignerin sich darum gekümmert hat. Aber natürlich hatte ich eine bestimmte Vorstellung im Hinblick auf die grafische Gestaltung, die auch weitgehend umgesetzt werden konnte.
MW: Stand für dich von Anfang an fest, dass du das Projekt allein durchziehst?
AD: Diese Aussage würde ich gern etwas differenzieren. Ich sehe das „Prosastück“ nämlich nicht als reines Solo-Projekt. Bei der Erstellung der Seite haben mich der Grafiker Florian L. Arnold (der übrigens auch Autor und Verleger ist) und die Webdesignerin Doreen Schiwek unterstützt. Zudem gibt es, hochtrabend ausgedrückt, einen Beirat, das heißt einen Kreis von Personen, der mir Texte empfiehlt – und das will ich auch noch ausbauen. Im Wesentlichen ist die Zeitschrift momentan aber schon ein Einmannbetrieb, was vor allem damit zu tun hat, dass Absprachen mit anderen Redaktionsmitgliedern sehr zeitaufwendig wären.
MW: Wie verlief die Textauswahl?
AD: Sehr unkompliziert. Da sich in Ausgabe 1 und 2 ausschließlich Texte von Autoren finden, die mir empfohlen wurden oder auf die ich selbst zugegangen bin, habe ich praktisch nur sehr gute und zum Profil der Zeitschrift passende „Prosastücke“ erhalten. Mal schauen, ob es auch in Zukunft so einfach sein wird.
MW: In welchen Abständen soll eine neue Ausgabe von Das-Prosastück.de erscheinen?
AD: Anvisiert sind zirka vier Ausgaben pro Jahr. Zum Glück ist man da bei einem Online-Magazin völlig flexibel: Je nachdem, wie viele geeignete Texte mir zur Verfügung stehen werden, könnte die Zahl der Ausgaben höher oder auch niedriger liegen.
MW: Wie findest du Leser*innen für Das-Prosastück?
AD: Durch Mundpropaganda in weiterem Sinne, das heißt einschließlich Kanälen wie Facebook.
MW: Geplant ist auch eine Auswahl von Texten als Printmagazin. Hast du auch darüber nachgedacht, Das-Prosastück generell in gedruckter Form zu publizieren? Ein Printmedium erfordert ja auch eine ganz andere Logistik als eine Onlinezeitschrift.
AD: Darüber habe ich in der Tat nachgedacht. Doch zum einen frage ich mich, ob eine regelmäßig erscheinende Literaturzeitschrift in gedruckter Form nicht schon fast ein Anachronismus ist. Und zum anderen hast du mit „Logistik“ ein wichtiges Stichwort genannt: „Hauptamtlicher“ Herausgeber kann und möchte ich nicht sein.
MW: Geplant sind – laut Website – auch Videointerviews mit Autoren und interessanten Persönlichkeiten des literarischen Lebens. Das klingt ambitioniert. Wieso Videointerviews und keine geschriebenen Interviews? Hast du schon Kandidat*innen für diese Interviews?
AD: Obwohl ich ein extrem textaffiner Mensch bin, finde ich gefilmte Interviews lebendiger und in der Regel ansprechender als verschriftlichte. (Weil ich gerade ein Interview gebe, das in schriftlicher Form erscheinen soll, trete ich da jetzt sozusagen in mein eigenes Fettnäpfchen …) Außerdem sehe ich in Videointerviews (auch Videolesungen oder eine Kombination aus beidem wären denkbar) eine Möglichkeit, dem Nutzer des „Prosastücks“ auch auf der visuellen Ebene etwas zu bieten, denn das Internet ist ja ein bildlastiges Medium. – Eine kleine Liste von Kandidaten habe ich bereits erstellt; da aber noch nichts abgesprochen ist, wäre es ungeschickt, Namen zu nennen. Prinzipiell kämen für solche Interviews insbesondere Autoren in Frage, die lyrische Prosa schreiben. Andererseits möchte ich es darauf nicht beschränken: Interessant fände ich auch Gespräche mit (Klein-)Verlegern, Literaturveranstaltern, Lehrern für kreatives Schreiben oder mit Menschen, die mehrere Rollen spielen, also zum Beispiel Autor UND Verleger sind.
MW: Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche dir weiterhin viel Elan und Freude mit deinem Projekt.
2020 10 Jan
Uli Koch | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Zeitreisen | 3 Comments
1969 fuhr der junge Dirigent der Münchner Kammeroper nach Amerika zu Bob Moog, um sich über dessen Modularsynthesizer zu informieren. Von einer Mäzenin hatte er 60000,- DM mitbekommen, um bei gefallen einen solchen erwerben zu können. Nach mehrtägiger Einweisung war er mehr als begeistert und kaufbereit. Doch Bob Moog musste ihn wegen der gerade explodierenden Bestellliste gründlich desillusionieren und bat ihn in zwei Jahren wiederzukommen. Doch kurz bevor er zurückfliegen wollte traf eine Lieferung mit vier riesigen Kisten im Hof des Herstellers ein: John Lennon hatte seinen Synthesizer mit der lakonischen Bemerkung: „Too complicated!“ wieder zurückgeschickt. Das war die Chance für Eberhard Schoener, der sofort zugriff und das Exemplar nach München bringen ließ. Bald darauf trat er zum ersten mal damit auf der Weltausstellung in Osaka auf und setzte seine Ideen und Experimente in den folgenden Jahren musikalisch sehr vielschichtig um, wobei seine Herkunft aus der Klassik auf subtile Weise sicherstellte, dass er hierbei die klischeehaften Entgleisungen vieler anderer Musiker weiträumig umschiffen konnte. So legte er 1974 mit Meditation ein bemerkenswertes frühes Ambientalbum vor, dass sich hinter den Klangforschungen der Berliner Schule nicht verstecken musste. Es folgten Bali Agung, das irgendwo zwischen Gamelan unf Trance den Hörer mit auf eine damals völlig neuartige Reise nahm und das programmatische Trance-Formation. Dieses Album markierte den Einstieg des späteres Police-Mitgründers Andy Summers; auf dem Folgealbum Flashback waren dann auch schon Sting und Steward Copeland dabei. Wer aber vermutet, dass sich hier auch nur irgendetwas nach den späteren The Police angehört hätte, irrt aber gewaltig. Es war eher ein Einstieg in den damaligen elektronischen Prog-Rock, dem man den klassischen Hintergrund und eine hohe musikalische Differenziertheit schnell anmerkte. Allein deshalb bin ich es bis heute nicht müde geworden seine 70er-Jahre-Alben immer wieder einmal aufzulegen und überraschend Neues, bisher Überhörtes zu entdecken. Das Ende dieser wunderbaren Serie bildete Video-Magic, das bis heute aus mir unbegreiflichen Gründen nie mehr wiederaufgelegt wurde und irgendwo im Niemandsland zwischen tranceartiger Elektronik, Jazz, Prog-Rock und klassischer Musik spielend wandelt.
In our day and age
we are experiencing the magic
of technical science.
II see the magic
in the city neon signs.
In the newspaper advertisements.
In the everpresent television
and in the constant
availability of music.
The music of „Video-Magic“
involves all this aspects.
For no one can deny
himself this magic.
A Koan.
schreibt Eberhard Schoener im Innencover. Ein Text der die magische Aufbruchstimmung der 70er-Jahre, die Faszination für das Artifizielle in Musik und visuellen Künsten, das Spiel mit Neon und Lasern recht treffend wiedergibt. Dinge, die schon lange nicht mehr innovativ sind und auch über die hyperpräsente Musik macht sich auch kaum noch einer Gedanken. Eine Zeitreise. Die erste Seite des Albums ist noch eher rockorientiert: Der elegante Opener Octogon erinnert ein bisschen an Pink Floyd, Speech Behind Speech ist eine komplexe Prognummer mit Ohrwurmmelodie, die von der noch etwas dünnen Stimme Stings intoniert wird, Natural High zitiert in geschickt arrangierten Fragmenten aus der damaligen Rock-Historie, wobei etwas ganz neues entsteht. Und schließlich Code Word Elvis, eine lange magische Ballade, die zwischen den Stilen nahtlos schwingt und auch das Orchester der Münchner Kammeroper, dessen Dirigent Schoener immer noch war, zum Einsatz kommt. Die zweite Seite ist dann hypnotischer und der grosse Moog bestimmt die Klangräume recht komplex und vielschichtig. Video-Magic steigt in eine sequentielle Trance ein, die in Night Bound City elegant fortgeführt wird. Mit San Francisco Waitress kommt Sting noch einmal zum Einsatz und schließlich endet das Album mit Koan, einem langen magischen, von Synthesizerflirren, Streichern und Jazzelementen getragenem Stück, in dem der Brückenschlag zwischen Elektronik, klassischer Komposition und einer Vorwegnahme von Elementen des New Wave am elegantesten gelingt und den Hörer am Ende, wie bei jedem anständigen Koan mit fragend-meditierendem Staunen absetzt. Ein sehr bemerkenswertes Werk, das in dieser Melange nur in Deutschland entstehen konnte und selbst im Rückblick in der Musik der 70er-Jahre wie ein sehr eigenwilliger, vieles vorwegnehmender Fremdkörper verbleibt.
Gedankenmüll im Kopf, Professor ratlos. Das Rettende: subtile, spontan auftauchende „Sprünge“ (shifts), aus deren Kraftimpuls heraus man plötzlich den Antrieb gewinnt, etwas zu schreiben und den Kernpunkt beim Schopfe packt, so als wolle man einen Schmetterling fangen. Diese Impulse sind unverfügbar, man muss sie einladen, ihnen ein ansprechendes Ambiente bereiten. Sind sie dann da, verschwindet alles andere, das Zeitgefühl verändert sich und drei, vier Stunden können sich dann in der Wahrnehmung leicht zu zwanzig Minuten komprimieren (einzig fatal ist, dass in solchen Momenten in der Küche gerne mal was anbrennt). Über eine lange Distanz hin entsteht so eine Sammlung eigener Texte, die auch im Rückblick noch Wert haben: das Glück des Schreibens, die Frucht der Arbeit, auch autobiografisch gesetzte Ankerpunkte. Beim Aufräumen der Wohnung fand sich in einem Packen angesammelter Journale, Schriftstücke und Zettelkrams auch ein älteres Blatt mit einer handgeschriebenen Notiz (zuweilen schrieb ich ja kleine, mir bedeutsame Textpassagen aus irgendwelchen Büchern ab). Schon im Begriff, diese dem Altpapier zukommen zu lassen, machte ich mir doch die Mühe, diese Kritzelschrift – etwas ungeduldig, da unter Zeitdruck – zu entziffern. „Das ist ja genial, was da geschrieben steht. Es entspricht genau meinen Vorstellungen und meiner Gefühlslage. Von wem war denn das bloß noch?“ Es sickerte dann durch: das hatte ich mal selbst geschrieben. „Sieh an, das hätte ich jetzt nicht gedacht!“ Welch ein Unterschied zu den oft hilflos herumstochernden, im Nachhinein peinlichen Selbstbezogenheiten und Egodramen in Tagebuchaufzeichnungen aus Jugendtagen, die einem beim Aufräumen auch jederzeit entgegenspringen könnten.
2020 8 Jan
Hans-Dieter Klinger | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments
Gregors Rückblick auf Musik des Jahres 2019 hat mir deswegen außerordentlich gut gefallen, weil mein Musikgeschmack großvolumige Übereinstimmung mit seinem aufweist. Ich konnte die Sendung nicht anhören als sie on Air lief. Ich musste mitschneiden, konnte deswegen mich umso intensiver auf das Gehörte einlassen, ich konnte stoppen, mir Gedanken und Notizen machen und mich zum Recherchieren auf den Weg begeben. Es liegt also nahe, die Eindrücke in ein Hörprotokoll zu verpacken.
„Es ist genau 19 Uhr, Sie hören das Freie Radio für Stuttgart mit der Sendung Jazz funkt, am Mikrophon begrüßt Sie herzlich Gregor Mundt“.
Das kommt ein wenig hastig aus Gregors Mund. Naja, ich kenne das. Man ist aufgeregt, und schon spielt man das Klavierstück vor Publikum schneller denn je, wie aufgezogen eben.
Es geht sofort los mit Klavier, mit The Windup, was von Google als „Das Aufziehen“ übersetzt wird. Die Tonqualität ist nicht high fidel, es klingt nach einem klanglich ordentlichen Bootleg – hä? doch nicht etwa eine bisher unveröffentlichte Perle des European Quartets von Jarrett? Welcher andere Pianeur als Keith würde sich an diesen affenschweren Fingerbrecher wagen? Aber der Verdacht fällt in sich zusammen, sobald der Drummer loslegt. Der ist mir doch etwas zu aufgedreht, zu hyperaktiv, und zwar das ganze Stück hindurch. Das hat Jon Christensen wesentlich geschmackvoller und raffinierter hinbekommen. Aber der Pianist macht es fantastisch – er heißt Joey, das bürgt für Qualität. Joey Calderazzo (einst Schüler von Richie Beirach) spielt ein fulminantes Solo. Der Saxophonist, der Bandleader ist Branford Marsalis, ebenfalls ein großer Virtuose mit herrlichen Einfällen. Joey und Branford gelingt eine verschmitzte Rückkehr ins Thema, wie mir scheint mit ein paar kleinen Zitaten bzw. bekannten Licks garniert, dem Hörer zum Rätselraten vorgesetzt. Beim Thema angekommen fühlt man sich wieder im Jarrett-Kosmos zu Hause, man kehrt zurück aus einer Bebop-Postbop-Welt, die das Jarrett-Garbarek-Quartet in ihrem aufgedrehten „Windup“ von 1974 nie betreten hat.
Branford Marsalis Quartet
The Windup
Album The Secret Between The Shadow And The Soul
Das erste Stück des Radioabends ist eine Jarrett-Komposition, gespielt vom Branford-Marsalis-Quartet. Nur noch einer hat es gewagt, The Windup auf ein Album zu bringen: der schwedische Gitarrist Ulf Wakenius. Die Komposition ist entstanden, als der große Klavierimprovisator auf dem Hochplateau seiner Kreativität weilte. Schade. Jarrett, der Komponist – diese Quelle hat Keith still gelegt seit er mit anderen Musikern nur noch Standards interpretierte.
Das Label Hubro
Das Label Hubro kenne ich noch nicht lange. Es mögen Klanghorizonte des Jahres 2018 gewesen sein, da widmete Michael Engelbrecht eine Stunde einem ungewöhnlichen norwegischen Instrument, der Hardingfele (Hardanger Fiedel).
Dadurch kam es zur Bekanntschaft mit Musikern wie Nils Økland, Erlend Apneseth, mit ihren Bands, mit ihrer Musik. Das war doch eine Entdeckung! Unglaublich, wie auf Basis tief respektierter Traditioneller Nordischer Musik ein neuer regionaler Tonfall entstanden ist durch die offene Aufnahme von Elementen aus der Ferne, aus Jazz, Rock, Ambient und and et …
Der Block begann mit Inngang aus dem Album Umbra von Lumen Drones. ’Drones‘ ist die englische Bezeichnung für ‘Bordun‘, was so viel heißt wie ’Brummbass‘. Ein Drone, ein Bordun ist ein meist tiefer Halteton zur Begleitung einer Melodie. Diese Technik, eine Melodie klanglich einzukleiden mit einem Ton oder einem Quintklang ist uralt und weltweit verbreitet. Vielen Instrumenten ist der ’Drone‘ einverleibt, dem Dudelsack als fest eingestimmte Bordunpfeifen, der Hardingfele als ungegriffen mitschwingende, „leere“ Aliquot-Saiten. Bei Lumen Drones wimmelt es vor betörenden Haltetönen und natürlich auch bei den folgenden gut gewählten Stücken.
Lumen Drones, Umbra – Inngang
Frode Haltli, Border Woods – Taneli`s Lament (Sorrow Comes To All)
Stein Urheim, Simple Pieces & Paper Cut-Outs – Blavals
Mats Eilertsen, Reveries And Revelations – Appreciate
Mats Eilertsen, And Then Comes The Night – After The Rain
Olivier Messiaen
Album Catalogue d’Oiseaux
Gut 40 Minuten sind vergangen, da erklingt wieder ein Klavier. Was für ein hinreißender Sound im Vergleich zum bootlägigen Klang des Pianos von Joey. Aber viel bedeutender ist die erklingende Musik. Was man von diesem Stück wissen sollte, hat Gregor in seinem Kommentar dargelegt. Ich mag Messiaen sehr, vor allem, man kann sagen fast ausschließlich seine Klavierwerke, die Préludes (ein Frühwerk), die Vingt régards sur l’enfant-Jésus und den Catalogue d’Oiseaux aus dem ein Stück vorgestellt wurde.
Daniele Di Bonaventura
Album Garofani Rossi
Lieder des Widerstands und der Revolution sind ja, vorzugsweise von großen Menschenmassen, „auf den Straßen zu singen“ (Hanns Eisler). Entsprechend schlicht und eingängig sind sie gehalten. Interessieren sich Jazzmusiker dafür, solche Lieder zu spielen? Nicht nur Peter Brötzmann oder Das Kapital haben es getan („Einheitsfrontlied“), auch Feingeister wie Charlie Haden (mit seinem Liberation Music Orchestra) oder Jan Garbarek („Hasta Siempre“).
Jetzt nimmt der italienische Bandoneonist Daniele di Bonaventura sich ihrer an. Ihn kennt man etwa als Duopartner von Paolo Fresu, auf dessen feinem Label Tûk er nun erscheint.
Wie der wortspielerische Bandname „Band’Union“ sein Instrument mit der Vorstellung eines Kollektivs verknüpft, hat Witz. „Garofani rossi“ („Rote Nelken“), der Titel des Albums, und die Wandmalerei auf dem Cover weisen auf die „Nelkenrevolution“ von 1974 in Portugal, das Ende der Militärdiktatur. Ausgelöst wurde sie durch ein Lied: „Grândola, vila morena“, das 2013 gegen die Sparpolitik von Regierung und Troika erneut aktiviert wurde.
Dieses stellt Bonaventura ins Zentrum seines Albums, umgeben von „Hasta siempre“, „Bella ciao“, „Die Internationale“, „El pueblo unido …“ und anderen Klassikern des Genres. Mit seinem Quartett unterstreicht er ihren kantablen Gestus, reichert sie harmonisch an und schafft Raum für einfühlsame Improvisationen. Der Klang des Bandoneons verleiht dem Ganzen einen Hauch von modernem Tango, sein Zusammenspiel mit einer zehnsaitigen Gitarre ist von kammermusikalischer Finesse. Kampflieder als filigran-mediterraner Jazz, ohne ihr widerständiges Potenzial glattzubügeln.
Quelle: Berthold Klostermann in FONO FORUM
Rabbia, Petrella, Aarset
Night Sea Journey
Album Lost River
ECM 2609
Umwerfend, was für eine Klangwelt!
Lorenzo Feliciati, Michele Rabbia
Parapegma
Album Antikythera
Rarenoise
Was für seltsame Namen! Nicht die der Musiker! Antikythera? Nie gehört, da muss ich nachgoogeln.
Es war die wohl erste Unterwasser-Archäologieexpedition aller Zeiten, doch das wichtigste Fundstück blieb fast unbeachtet. Rund ein Jahr, nachdem der griechische Schwammtaucher Elias Stadiatis im Frühjahr 1900 nahe der kleinen Insel Antikythera ein versunkenes römisches Schiffswrack entdeckt hatte, durfte er auch bei der Hebung der vermuteten Schätze mitarbeiten. Aus rund 40 Metern Tiefe bargen Stadiatis und seine Kollegen Statuen aus Marmor und Bronze sowie andere Kunstschätze aus dem 300-Tonnen-Handelsschiff. Auch Alltagsgegenstände wie Amphoren und Münzen kamen ans Tageslicht – und ein schuhkartongroßer Klumpen, der unter der Archivnummer 15087 katalogisiert und anschließend vergessen wurde.
Während vor allem die Statuen die Wissenschaftler faszinierten, kümmerte sich kaum jemand um den deformierten Klumpen. Im Mai 1902 bemerkte der griechische Archäologe Valerios Stais dann, dass das Artefakt aufgesprungen und in mehrere Teile zerbröselt war. Das Gerät, das später als Mechanismus von Antikythera bekannt werden sollte, war zerstört – und Forscher versuchen seitdem mühevoll, den Überbleibseln ihre Geheimnisse zu entlocken.
Erst seit einigen Jahren ist klar, dass der mysteriöse Mechanismus unter anderem ein Kalender zur Vorhersage von Mond- und Sonnenfinsternissen war – und, wie man seit vergangenem Sommer weiß, auch eine Art Terminplaner für die Wettbewerbe in den Zeiten zwischen den Olympischen Spielen. Doch längst sind noch nicht alle Fragen geklärt. Der antike Computer, dessen Präzision mehr als tausend Jahre lang unerreicht blieb, gibt den Forschern noch immer Rätsel auf.Quelle Spiegel 2009
Wikipedia verrät: Ein Parapegma (griechisch παράπηγμα „Tafel“, „Kalender“) ist ein antiker Steckkalender, der von den Griechen auf Grundlage der babylonischen Astronomie mit Wettervorhersagen verbunden wurde.
Rolf Kühn
Both Sides Now
Album Yellow & Blue
MPS
Eine minutenlanges betörendes Solo des Pianisten Frank Chastanier leitet hin zu Rolf Kühns warmem Klarinettenton für Joni Mitchells wunderbare Ballade Both Sides Now. Das ist Musik, die keine Worte braucht.
Liederbuch
Dazu kann ich nicht viel sagen. Ich bin ein Anhänger von Instrumentalmusik. Ich habe schon sehr lange keine Schubert-Lieder mehr gehört und Popsongs gehe ich aus dem Weg. Bestimmt versäume ich etwas dabei, aber das stört mich nicht. Alles habe ich nicht versäumt. Immerhin habe ich viel Frank Zappa – was ich nicht zur Popmusik rechne – gehört. Da gibt es auch eine Menge Text, aber nix Gefühlsduseliges. Die Beatles sind musikalisch so gut, da kann der Text nichts vermasseln. Die Beatles Texte entpuppten sich ohnehin schon längst als literarische Preziosen. Pink Floyd waren am besten auf dem Studioalbum von Ummagumma. Da gebrauchten sie nicht viel Worte. Aber das lieben die pinken Musiker nicht, sondern mögen eher den Schmalz und Bombast ihrer anderen Alben. Ok, das gehört nicht daher. Aber wortlos möchte ich nicht am Liederbuch vorbeigehen.
Nick Cave & The Bad Seeds, Ghosteen – Waiting For You
Wilco, Ode to Joy – Love is everywhere (Beware)
James Yorkston, The Route to the Harmonium – Like Bees to Foxglove
mute records – STUMM433
Gregors Ansage und sein Kommentar kamen erst nach dem Vortrag dieses Stücks zu Gehör. Deshalb verschiebe ich meine Ansage und meinen Kommentar hinter das Bekenntnis meiner Eindrücke.
Man hört ein sich gering wandelndes Rauschen, gelegentliche Tierlaute. Ab und zu erinnert ein rollendes Grummeln an fernen Donner, weshalb ich die Ursache des Geräuschs leichtem Regen zuschreibe. Aha, dachte ich, ein klassisches Ambient-Stück. Wenn es also eine Aufnahme im Freien ist, mag sie eine gewisse Bedeutung für den Aufnehmenden haben. Ich habe schon einmal Regengeräusche erlebt, Regen, der ununterbrochen fiel von 2 Uhr morgens bis 24 Uhr abends. Sicher habe ich nicht alle Tropfen gehört, denn ich bin in meinem Zelt wohl ab und zu eingeschlummert wenn der Wind das Zelttuch nicht zu laut knattern ließ. Es war eine Übung in geduldigem Zuhören, damals in Island unterhalb des Hellnafjalls. Ich kenne noch das Datum des Tages. Es war der 22. Juli 2011. Als ich am nächsten Tag meinen Freund in Reykjavík anrief und nach der Wetterlage fragte, erzählte er von den Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya. Ich hatte schon einmal die Idee, bei meinen Islandreisen keine Kamera, sondern meinen SONY Digital-Recorder mitzunehmen und statt eines Fotoalbums ein Klangalbum anzulegen.
Die Idee des Labels ist natürlich pfiffig. „mute records“ heißt ja „Plattenfirma Stumm“. Da muss man wissen, was mit 433 gemeint ist: die Auflage des Albums umfasst 433 Exemplare. Und dann muss man wissen, dass 4’33 (4 Minuten 33 Sekunden) eine Komposition von John Cage ist. Und dann muss man wissen, dass diese Komposition von John Cage auf dieser Edition von Mute Records enthalten ist, leider nicht 433, sondern nur 58 Mal. Und dann muss man das Geheimnis von John Cages Stück kennen.
Gregor lüftete das Geheimnis in weniger als viereinhalb Minuten. Der Inhalt seiner Rede war nicht unähnlich Worten, die ich im Spiegel gefunden habe:
Am 29. August 1952 führte der Pianist David Tudor zum ersten Mal John Cages Stück 4’33“ auf. Das Konzert in der Maverick Concert Hall nahe Woodstock erzeugte im Publikum einen mittelschweren Aufruhr. Nicht so tumulthaft wie etwa nach Stravinskys „Le sacre du printemps“-Uraufführung, aber doch so heftig, dass er in die Musikgeschichte einging. Cage hatte verfügt, dass der ausführende Musiker sein Instrument nicht bedient – viereinhalb Minuten lang.
Hörbar wurden durch 4’33“ mit einem Mal die Geräusche des Raumes, das Räuspern im Publikum, der sich steigernde Unmut. Tudor selbst sah in dem Stück „eine der intensivsten Hörerfahrungen, die man haben kann“. Anders gesagt: 4’33“ ist eine mit einfachsten Mitteln hergestellte Erweiterung des Begriffes davon, was Musik ist und sein kann.Quelle: Spiegel
Was Musik ist und sein kann, wird nicht – zumindest nicht im Sinne von John Cage – durch den Vertrieb dieser Vinyl-Box hinterfragt. Das liefert nur die altbekannte Antwort, dass Alles im kapitalistischen Wirtschaftssystem eine Ware ist. Hier ein kleiner Beleg für diese These, einer von vielen möglichen, gefunden bei Facebook:
#STUMM433 ist die neueste Version der MUTE 4.0 – Reihe:
Ein Box-Set, das eine beispiellose Auswahl vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Mute-Künstler auf Vinyl zusammenstellt (5Vinyl Box-Set), als sehr limitierte Box-Set-Edition mit einer Auflage von 433 Stück, die auch von Daniel Miller signiert wurden, auch als 5CD (Ltd Deluxe Box Set) sowie zum Herunterladen und Streamen.
#STUMM433 bietet eine riesige Auswahl von über 50 Mute-Künstlern.
Was Musik ist und sein kann, ist eine Frage, die ich für unlösbar halte. Es soll Sprachen geben, die kein Wort für Musik kennen. Schon bei Vogelgesängen scheiden sich die Geister. Ist das Gezwitscher Musik? Oder ist es erst dann Musik, wenn Olivier Messiaen die Vogellaute als Klaviermusik katalogisiert? Nun geht es John Cage um wesentlich mehr als diese Frage. Wer mehr über Cage wissen möchte, möge sich den wunderbaren Film The Revenge of the Dead Indians von Henning Lohner besorgen bevor er vergriffen ist.
John Cage interessierte die Stille auf vielfältige Weise. So besuchte er einmal einen schalltoten Raum, um Stille zu erfahren. Ich hatte ein einziges Mal in meinem Leben eine schalltote Gegend in freier Wildbahn erleben dürfen.
Unserer Umwelt wird nicht nur Licht, Feinstaub, Mikroplastik und zeeeOzwei im Übermaß zugeführt, sondern auch Schall. Die Welt war vor ein paar hundert Jahren leiser. Fernab der Zivilisation lebende indigene Völker hören besser.
Hörverlust im Alter scheint zumindest zum Teil zivilisationsbedingt zu sein. Bei Hörmessungen an den Ureinwohnern Australiens stellte man fest, dass ältere Aborigines noch fast so gut hören konnten wie jüngere. Daraus zog man den Schluss, dass das menschliche Gehör in Industrieländern wesentlich stärker dem Verschleiß ausgesetzt ist als in weniger entwickelten Regionen.
Quelle KIND Hörgeräte (Ex-Präsident Hannover 96)
Im Mittelalter waren Schmiede wegen der täglichen wuchtigen Hammerschläge von Schwerhörigkeit und Tinnitus bedroht. Aber zurück zur STUMM433 Vinyl-Box. Es handelt sich um ein originelles Gimmick, aber John Cages Idee wird verfehlt, wenn 4’33 auf Tonträger verbannt wird. Wahrscheinlich liefern alle 58 mute records Artisten irgendein Gedudel ab. 4’33 sollte vor Publikum erklingen. Die verrückteste Version ist hier zu finden. Unbedingt anschauen und bis zum Ende durchhalten! Ich verstehe, warum Keith Jarrett so gern und so oft in Japan aufgetreten ist. Wo sonst findet man so höfliche, stille, fast hustenfreie Zuhörer? Übrigens spendet mute records einen Teil des Verkaufserlöses der British Tinnitus Association. Angesichts der Auflage von 433 Exemplaren dürfte die Spende von überschaubarem Umfang sein.
Rachmaninoff / Trifonov: Vocalise op. 34 Nr. 14 für Klavier
Daniil Trifonov (*1991) gehört jetzt schon zu den bedeutendsten Pianisten der Gegenwart. Er steht in meiner Favoritenliste 2019. Vocalise ist ein recht bekanntes Werk Rachmaninoffs, eine anrührende Miniatur, die in Livekonzerten eher als Encore zu hören ist. Die Hauptwerke des hier vorliegenden Albums sind Rachmaninoffs Klavierkonzerte No. 1 und No. 3. Wer eine Aufnahme von „Rach 3“ sein eigen nennt, möge sich einen Liveauftritt Trifonovs (Paris 2015) zu Gemüte führen. Natürlich ist es eine Empfehlung für alle. Aber man muss schon ca. 40’33 aufbringen …
Rachmaninoff, Klavierkonzert No. 3 in d-Moll
Vocalise (arr. Daniil Trifonov)
Louis Sclavis
La dame de Martigues
Album Characters On A Wall
ECM 2645
Vier herrliche Stücke, von denen drei auf ECM-Alben zu finden sind bilden den Ausklang. Ohne den gesamten ECM-Kosmos zu repräsentieren wird erneut demonstriert, was ohnehin bekannt ist: ECM ist das außergewöhnlichste Label in der bisherigen Geschichte der Tonträger.
Marco Ambrosini & Ensemble Supersonus
Rosary Sonata No. 1
Album Resonances
ECM 2497
Dass die Titel und die Besetzung der Stücke erst angesagt wurden, nachdem sie verklungen sind, ließ Freiraum beim Zuhören. Bei diesem Stück habe ich mir viele Notizen gemacht:
da ist Maultrommel dabei – Obertonspiel / Nyckelharpa? oder Gambe / Cembalo / hohe Flöte mit unangenehmem Ton oder singende Säge? nee das ist Obertongesang a la Tuva / Psalterium (Hackbrett) ? / interessante Instrumentierung / Zeit: Renaissance Frühbarock / Variationsform
Und hier ist die Besetzung:
Marco Ambrosini – Nyckelharpa / Anna-Liisa Eller – Kannel / Anna-Maria Hefele – Polyphonic Overtone Singing, Harp / Wolf Janscha – Jew’s Harp / Eva-Maria Rusche – Harpsichord, Square Piano
Was für eine Klangwelt und was für ein inspirierter Umgang mit Alter Musik! Der Titel brachte mich auf die richtige Spur. „Rosary Sonata“ – es konnte sich nur um eine der Rosenkranz-Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber handeln. Ich kenne sie nicht gut. Es ist lange her, dass ich sie gehört habe und dann bestimmt nur einmal. Aber sie sind berühmt. Im Jahr 2017 gab es eine wunderbare Sendung bei WDR3, die 2019 wiederholt wurde und deshalb noch bis zum 29. Mai 2020 nachgehört und heruntergeladen werden kann
Das Mysterium der Zeitlosigkeit
Bibers „Rosenkranz-Sonaten“ und das radikal Moderne
Von Janko HanushevskyAufnahme des WDR 2017
Der Komponist Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) hat seine fünfzehn
Mysterien Sonaten den Geheimnissen des Rosenkranzes gewidmet. Sein Zyklus für Violine und Generalbass galt damals als radikal modern und zählt noch heute zum Schwierigsten, was das Repertoire des Frühbarock zu bieten hat.
„Heinrich Ignaz Franz Biber war ein Experimentierer“, sagt die Barockgeigerin Maya Homburger. Seit drei Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit seinem Werk. Sie hat eine Gesamteinspielung der Mysterien Sonaten auf Originalinstumenten vorgelegt, hat aber auch Werke Bibers in unkonventioneller Duobesetzung mit ihrem Mann, dem Komponisten und Kontrabassisten Barry Guy, aufgenommen. Das Duo bewegt sich im Grenzgebiet zwischen alter und neuer Musik, verbindet Barock mit zeitgenössische Klangsprache, Komposition mit Improvisation. Dabei fühlen sich die beiden Musiker dem Experiment verpflichtet. So hat Guy Interventionen zu einer Mysterien Sonate komponiert und neue Musik für Barockgeige, die Referenzen auf Biber enthält.Quelle WDR
Sylvie Courvoisier, Mark Feldman
Homesick for Another World
Album Time Gone Out
intakt CD 326 http://www.intaktrec.ch/326-a.htm
Meine Notizen:
Streichinstrument, leicht verfremdet klingende Geige – sehr interessantes Intro / Piano, inneren Saitenglissandi, Anschlag handgedämpfter Saiten / extrem interessant
Seit bald zwanzig Jahren definieren Sylvie Courvoisier und Mark Feldman den Dialog zwischen westlicher und amerikanischer Musik, Improvisation und Komposition, Tradition und Moderne kontinuierlich neu. Die verschiedensten Spielhaltungen und atmosphärischen Valeurs vernetzen sich in den hellwachen Reaktionen der beiden Spieler – Tanz, Weltschmerz, befreiende Energie, Bekenntnis zu schlichter Schönheit, schrille Sprungkaskaden.
Quelle: INTACT RECORDS
G. Trovesi & G. Coscia
Gragnola
Album La Misteriosa Musica Della Regina Loana
ECM 2652
Dieses äußerst unterhaltsame und höchst erfindungsreiche Album ist dem verstorbenen Umberto Eco gewidmet, einem lebenslangen Freund des Akkordeonisten Gianni Coscia und leidenschaftlichen Unterstützer dieses besonderen Duos. Ecos „The Mysterious Flame of Queen Loana“, eine Meditation über die Natur der Erinnerung, inspiriert Trovesi und Coscia auf ihrer eigenen nostalgischen musikalischen Forschungsreise, die auf die im Roman erwähnte Musik verweist und sich frei auf seine philosophischen Themen bezieht.
Quelle: ECM Records
Keith Jarrett
Somewhere Over The Rainbow
Album Munich 2016
ECM 2667
Mit Keith Jarrett als Komponist wurde die Sendung eröffnet, geschlossen wird sie mit Keith Jarrett als Interpret einer Fremdkomposition, mit seiner Lieblingszugabe in einer unglaublich komplexen Version, vielleicht seiner besten dieses hübschen Standards.
Dieses Solokonzert von Keith Jarrett – aufgenommen in der Münchner Philharmonie am 16. Juli 2016, am letzten Abend einer Europatournee – zeigt den großen Klavierimprovisator auf dem Höhepunkt seiner Kreativität.
Quelle: ECM
Ich bin nicht dieser Meinung. Ich halte – wie Michael Engelbrecht auch – die 60er und 70er Jahre für seine kreativste Zeit. Beim Münchner Konzert 2016 war ich glücklicherweise im Publikum. Dazu existiert ein Blogbeitrag, den ich für meine jüngste Amazon-Rezension verwendet habe.
Es sind nicht die schlechtesten Abende, die man mit Bruckner im Kopfhörer spät abends im Zug heimwärts fährt. Irgendwann verliert sich der Blick aus dem Zugfenster, hinaus in die Dunkelheit ins Unendliche. Aus allem schwach Sichtbaren werden Farbkleckse und unstete Bewegungen. Für „Vier letzte Lieder“ ist es noch viel zu früh; später vielleicht einmal. Und dann umso öfter.
2020 6 Jan
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
XV
esta noche no intentaremos recordar
se abrirán sombras
caerá el alboroto en la mordedura de sus pájaros
estaremos felices
arrepentidos
XVI
duelen estas ganas de luto
de amanecer recogiendo plumas
en patios ajenos
ganas de ser ella
XV
heute Abend versuchen wir uns nicht zu erinnern
Schatten öffnen sich
die Erschütterung verschiebt sich auf die Bisse der Vögel
wir sind glücklich
mit schlechtem Gewissen
XVI
diese Lust auf Trauer tut weh
bei Tagesanbruch
in fremden Höfen Federn aufzuheben
Lust sie zu sein
Aus dem Zyklus Luba / Luba
Jacqueline Goldberg dokumentiert in ihren Gedichten alle Arten des Zitterns, des Hungers und der Entwurzelung. Ihre Erinnerungen sind das Erbe ihrer Vorfahren. Goldbergs Sprache ist zugleich brüchig und sehr genau. Letztendlich sind wir nicht, was wir sagen. Wir sind mehr.
Tienen parecido a tantas cosas mis manos:
a una palmera,
un cuervo,
un tizón,
leguas marinas,
un alud,
un tren,
una mazorca,
un súbito desamparo.
[…]
Por el temblor he conocido
la ceguera,
la mudez,
la sordera,
la anosmia.
Meine Hände ähneln so vielen Dingen:
einer Palme,
einer Krähe,
Kohle,
Seemeilen,
einer Lawine,
einem Eisenbahnzug,
einem Maiskolben,
einer plötzlichen Hilflosigkeit.
[…]
Durch das Zittern habe ich die Blindheit kennengelernt,
das Stummsein,
Taubheit und den Verlust
des Geruchssinns.
aus dem Zyklus El cuarto de los temblores/Zitterzimmer
Neuerscheinung im hochroth Verlag Heidelberg:
Jacqueline Goldberg – Ich bin nicht, was ich sage | No soy lo que digo
Aus dem venezolanischen Spanisch von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Martina Weber
hochroth Heidelberg 2020
ISBN: 978-3-903182-54-7
42 Seiten, 19 x 13 cm, Broschur, 8 €
Jedes Buch ist handgefertigt.
Hier geht es zum Buch auf der Verlagsseite.