Das normale literarische Lesepublikum, das sich seinen Stoff in Buchhandlungen oder im Internet besorgt, hat meist keine Ahnung von der Existenz einer enormen Vielfalt an Literaturzeitschriften, die sich in einer Art Zwischenzone befinden. Vielleicht kennt man aus einer guten Buchhandlung Zeitschriften wie Sinn und Form oder Neue Rundschau, aber ich spreche hier von Magazinen, die manchmal in einer Auflage von weniger als hundert Stück erscheinen und die einzig vom Engagement der Redaktion leben und davon, dass Autorinnen und Autoren ihre Texte ohne Honorar zur Verfügung stellen und sich trotzdem unglaublich freuen, Teil von etwas zu sein. Mit der Verbreitung des Internets seit der Jahrtausendwende kamen Onlinemagazine dazu. Ich habe diese Welt erst entdeckt, als ich zu schreiben begann und erste Publikationsmöglichkeiten suchte. In Handbüchern für Autorinnen und Autoren, zum Beispiel in dem Standardwerk, das Sandra Uschtrin seit Jahrzehnten herausgibt, findet sich immer auch ein Kapitel mit einer Übersicht von Literaturzeitschriften. Der Schriftsteller Arno Dahmer hat im vergangenen Jahr eine Online-Literaturzeitschrift für kürzere Texte gegründet.
Martina Weber: Arno, du hast vor drei Jahren deinen Erzählungsband Manchmal eine Stunde, da bist du im Mirabilis Verlag veröffentlicht und im vergangenen Jahr die Online-Literaturzeitschrift Das-Prosastück.de gegründet. Mittlerweile sind zwei Ausgaben erschienen, die erste am 20. Juli und die zweite am 30. Oktober. Auf der Website schreibst du, du möchtest „Prosa fürs Ohr“ vorstellen. „Kürzere Texte, die sich durch Sprachmusikalität auszeichnen: Prosagedichte, Prosaskizzen oder auch in sich geschlossene Auszüge aus Längerem.“ Wie bist du auf die Idee gekommen, eine Literaturzeitschrift zu gründen, und wieso dieses Profil?
Arno Dahmer: Die Idee ist vor allem aus Leseerfahrungen entstanden, denn ich schätze Texte dieser Art besonders. In meiner Schulzeit diktierte uns ein Lehrer mal ein Stück aus Thomas Manns kurzer Erzählung „Enttäuschung“ – was eigentlich wohl geschah, um die Zeichensetzung in langen Sätzen zu üben, für mich aber eine Art literarisches Erweckungserlebnis war: Mir wurde bewusst, wie herrlich eine Prosa sein kann, die dicht und melodisch ist. Später habe ich dann mit Begeisterung Gottfried Benns „Gehirne“ gelesen, die (wenigen) Prosagedichte Stefan Georges und viele von den Prosastücken Robert Walsers – um nur einige Werke bzw. Autoren herauszugreifen, die zu dem Entschluss beigetragen haben mögen, „Das Prosastück“ zu gründen. Einer meiner Lieblingsschriftsteller – das muss ich in diesem Zusammenhang noch loswerden – ist Peter Kurzeck (1943-2013), der Romane schrieb, aber in einer ausgesprochen musikalischen, leicht experimentellen Sprache.
Ein anderes Motiv dafür, eine derartige Zeitschrift ins Leben zu rufen, war, dass ich lyrische Prosa – speziell kurze Texte dieser Art – für eine zu wenig beachtete und in gewisser Weise verkannte literarische Gattung halte. Die reine Lyrik hat immerhin ihre gut ausgebaute Nische: Es gibt Lyrikwettbewerbe, -festivals, -zeitschriften, sogar Lyrikverlage. All dies existiert für die lyrische Prosa nicht oder nur in geringerem Maße. Auf der anderen Seite passt sie aber auch nicht so recht zu einem weitverbreiteten Verständnis von Prosa, dem zufolge ein Prosatext eine Handlung und einen Länge von mehreren Seiten haben muss bzw. ansonsten etwas Unfertiges und/oder Läppisches ist – so als wäre Kurzprosa etwas, das immer nur als Fingerübung oder als Nebenprodukt auf dem Weg zum Roman oder zur längeren Erzählung entsteht. – Mit dem „Prosastück“ hoffe ich, eine Plattform schaffen zu können, auf der lyrische Prosa nicht am Rand, sondern im Zentrum steht, einen Rahmen, in dem sich im Idealfall der Reiz solcher Texte auch Lesern erschließt, die bisher wenig oder keine Berührung damit hatten. Abschließend möchte ich zum Konzept der Zeitschrift noch anmerken, dass zwar der Schwerpunkt auf lyrischer Prosa liegen wird, klassisch erzählte Kurztexte deshalb aber nicht prinzipiell ausgeschlossen werden sollen – siehe die Geschichte von Ralf Schwob in Ausgabe 2.
MW: Wie bist du vorgegangen, nachdem die Idee und der Plan da waren? Hast du dich erst um den technischen Aspekt des Aufbaus einer Internetseite gekümmert oder um die Textsuche, oder ging das parallel?
AD: Das lief parallel. Bzw. hatte ich mit dem technischen Aspekt wenig zu tun, weil eine Webdesignerin sich darum gekümmert hat. Aber natürlich hatte ich eine bestimmte Vorstellung im Hinblick auf die grafische Gestaltung, die auch weitgehend umgesetzt werden konnte.
MW: Stand für dich von Anfang an fest, dass du das Projekt allein durchziehst?
AD: Diese Aussage würde ich gern etwas differenzieren. Ich sehe das „Prosastück“ nämlich nicht als reines Solo-Projekt. Bei der Erstellung der Seite haben mich der Grafiker Florian L. Arnold (der übrigens auch Autor und Verleger ist) und die Webdesignerin Doreen Schiwek unterstützt. Zudem gibt es, hochtrabend ausgedrückt, einen Beirat, das heißt einen Kreis von Personen, der mir Texte empfiehlt – und das will ich auch noch ausbauen. Im Wesentlichen ist die Zeitschrift momentan aber schon ein Einmannbetrieb, was vor allem damit zu tun hat, dass Absprachen mit anderen Redaktionsmitgliedern sehr zeitaufwendig wären.
MW: Wie verlief die Textauswahl?
AD: Sehr unkompliziert. Da sich in Ausgabe 1 und 2 ausschließlich Texte von Autoren finden, die mir empfohlen wurden oder auf die ich selbst zugegangen bin, habe ich praktisch nur sehr gute und zum Profil der Zeitschrift passende „Prosastücke“ erhalten. Mal schauen, ob es auch in Zukunft so einfach sein wird.
MW: In welchen Abständen soll eine neue Ausgabe von Das-Prosastück.de erscheinen?
AD: Anvisiert sind zirka vier Ausgaben pro Jahr. Zum Glück ist man da bei einem Online-Magazin völlig flexibel: Je nachdem, wie viele geeignete Texte mir zur Verfügung stehen werden, könnte die Zahl der Ausgaben höher oder auch niedriger liegen.
MW: Wie findest du Leser*innen für Das-Prosastück?
AD: Durch Mundpropaganda in weiterem Sinne, das heißt einschließlich Kanälen wie Facebook.
MW: Geplant ist auch eine Auswahl von Texten als Printmagazin. Hast du auch darüber nachgedacht, Das-Prosastück generell in gedruckter Form zu publizieren? Ein Printmedium erfordert ja auch eine ganz andere Logistik als eine Onlinezeitschrift.
AD: Darüber habe ich in der Tat nachgedacht. Doch zum einen frage ich mich, ob eine regelmäßig erscheinende Literaturzeitschrift in gedruckter Form nicht schon fast ein Anachronismus ist. Und zum anderen hast du mit „Logistik“ ein wichtiges Stichwort genannt: „Hauptamtlicher“ Herausgeber kann und möchte ich nicht sein.
MW: Geplant sind – laut Website – auch Videointerviews mit Autoren und interessanten Persönlichkeiten des literarischen Lebens. Das klingt ambitioniert. Wieso Videointerviews und keine geschriebenen Interviews? Hast du schon Kandidat*innen für diese Interviews?
AD: Obwohl ich ein extrem textaffiner Mensch bin, finde ich gefilmte Interviews lebendiger und in der Regel ansprechender als verschriftlichte. (Weil ich gerade ein Interview gebe, das in schriftlicher Form erscheinen soll, trete ich da jetzt sozusagen in mein eigenes Fettnäpfchen …) Außerdem sehe ich in Videointerviews (auch Videolesungen oder eine Kombination aus beidem wären denkbar) eine Möglichkeit, dem Nutzer des „Prosastücks“ auch auf der visuellen Ebene etwas zu bieten, denn das Internet ist ja ein bildlastiges Medium. – Eine kleine Liste von Kandidaten habe ich bereits erstellt; da aber noch nichts abgesprochen ist, wäre es ungeschickt, Namen zu nennen. Prinzipiell kämen für solche Interviews insbesondere Autoren in Frage, die lyrische Prosa schreiben. Andererseits möchte ich es darauf nicht beschränken: Interessant fände ich auch Gespräche mit (Klein-)Verlegern, Literaturveranstaltern, Lehrern für kreatives Schreiben oder mit Menschen, die mehrere Rollen spielen, also zum Beispiel Autor UND Verleger sind.
MW: Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche dir weiterhin viel Elan und Freude mit deinem Projekt.