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2019 21 Dez

Mein Jahresrück- und Ausblick und Top 20

von: ijb Filed under: Blog | TB | 6 Comments

Nun sind ja in den letzten Wochen des Jahres wie nicht selten noch einige tolle Platten herausgekommen (Function, Shed, MoE & Pinquins, Alva Noto & Ryuichi Sakamoto), und manch eine bereits früher im Jahr erschienene habe ich zwischenzeitlich entweder noch günstig erworben oder zumindest ausgeliehen oder anderswie zu Gemüte geführt bzw. zugesandt bekommenGleich zwei der besten Alben kamen im Herbst/Winter beim Avantgarde-Label Subtext Recordings heraus (Subtext Recordings was founded in 2004 in Bristol. Now based in Berlin, the label is curated by James Ginzburg and explores the numinous space between experimental electronic and composed instrumental music.): erstens das exzellente, aus Field Recordings, Ambient, Perkussion und Club Music verdichtete Album Carbon des Duos Ecker & Meulyzer, über das ich hier geschrieben habe. Zweitens Oratorio for the Underworld: Hinter dem Pseudonym PYUR verbirgt sich die Münchnerin Sophie Schnell, deren Lebensgefährte Olly Peryman aus Neuseeland unter dem Alias „Fis“ (schwer zu gugln) übrigens ebenfalls ganz famose, latent ambiente elektronische Musik veröffentlicht. Ich habe (und empfehle sehr) seine Alben From Patterns to Details (2016) und The Blue Quicksand Is Going Now (2015); mehr weiß ich über ihn nicht. PYUR veröffentlichte vor drei Jahren eine LP namens Epoch Sinus, die  sehr schön zwischen intuitivem Ambient und ästhetisch-natürlichem Drone/Noise wandelt. Ein frühes Interview mit der Künstlerin, Überschrift „I wanted the Listener to feel powerful“, fand ich hier.

Ihr zweites Album ist vielleicht ein Meisterwerk, jedenfalls eines, das über rund eine Stunde einen phänomenalen Sog ausübt, halluzinogen, poetisch, surreal, vielschichtig aus Elementen konstruiert, die ich nicht ausmachen kann. Frank P. Eckert bezeichnet die Musik als „topmodernen Hybrid aus Neoklassik, Industrial und Dark Ambient“ und führt in seiner monatlichen Kolumne bei Groove.de aus:

PYURs Soundtrack zu diesem Trip […] behält [seine] Quellen derart halbbedeckt und teilverfremdet, dass sich immer gerade nicht erahnen lässt, wo sie herstammen. Es bleibt das diffuse Gefühl, diese Klangfetzen schon zig mal gehört zu haben – und noch nie.  Das ist exakt das Geheimnis guter Popmusik. […] Bei PYUR kommt dazu ein brillantes, dynamisches Sounddesign, das adäquat zwischen notwendigem Schmutz und klärender Glanzpolitur zu vermitteln weiß.

 

 

 

In meinem vorläufigen Jahresrückblick vor ein paar Wochen habe ich Julia Kadels Trioalbum Kaskaden nicht erwähnt, das zu meinem Erstaunen niemand in seiner Jahres-Rückblickliste erwähnt hat (vielleicht weil es diesmal nicht bei Blue Note, sondern bei MPS erschien, das irgendwie niemand auf dem Schirm zu haben scheint; es wurde auch so gut wie gar nicht in  den Medien besprochen, sehr schade). Ich höre es sehr gerne; eine(s) dieser speziellen Jazztrio(alben), bei denen man immer wieder etwas Neues zu hören meint. Auch habe ich zwei elektronische Alben vergessen, die mich bereits sehr früh im Jahr 2019 begeistert haben; beide erschienen im Januar:

Die Musikerin/DJ Melika Ngombe Kolongo alias Nkisi stammt aus der Demokratischen Republik Congo, lebt derzeit in London und hat im Januar die LP 7 Directions herausgebracht, die auf seltene Weise elektronische Londoner Club-Kultur mit polyrhythmischer zentralafrikanischer Musiktradition verbindet, a stark exercise in rhythm and atmosphere, delivered in seven unnamed tracks. On each one, blunt drum loops are layered into shuddering polyrhythms, while more ambient sounds drift around them, forming shimmering, mirage-like structures (Resident Advisor). Und Moor Mothers eindringliches Analog Fluids of Sonic Black Holes ist auch ein Werk, das 2019 einen wichtigen Stellenwert haben sollte, finde ich: This dense, incredible LP blends jazz, modular synths and spoken word in a document of time travel as a conduit for black empowerment. (RA review) Wem die politische Dichterin, Aktivistin, Wort- und Klangkünstlerin aus Philadelphia bislang verpasst hat: Unbedingt nachholen! Und Moor Mothers (Camae Ayewa) andere Alben (u.a. Fetish Bones) sind nicht weniger empfehlenswert!

Und dann das radikal intensive Album des US-Amerikaners Surachai Sutthisasanakul, einem Sound-Designer und Komponist, der seit zehn Jahren neben seinen Soundjobs für große Firmen dunkle Industrial-Klangmonster baut. Come, Deathless synthesizes live playing, field recordings, analog synthesizers, and heavy digital manipulation into a cohesive whole (…). This music finds the artist sometimes marching, sometimes dancing, sometimes weeping, sometimes praying, and sometimes screaming. The field recording sources range from the thick jungles and mountains of Thailand, California coastlines and various studios in Chicago. On the other hand, a lot of the synthesis comes from closed virtual environments or hulking immobile synthesizer systems. Thousands of sounds were networked and streamlined through several computers so I couldn’t get away or have an excuse not to work on the album. As a professional sound designer, mixer, and location audio engineer Surachai works tirelessly to ensure his releases meet the highest sonic standards. (aus dem Presseinfo; die kostspielige LP besitze ich leider nicht.)

 

 

 

Wenn ich mich also heute für eine „Top 20“-Liste meiner persönlichen im Jahr 2019 veröffentlichten Lieblingsalben entscheide, kommt folgendes dabei heraus:

 

  • 01. Mattiel  Satis Factory
  • 02. Burial  Tunes 2011-2019
  • 03. Little Simz  Grey Area
  • 04. Pyur  Oratorio for the Underworld
  • 05. Jamila Woods  Legacy Legacy
  • 06. FKA twigs  Magdalene
  • 07. Barker  Utility
  • 08. Kim Gordon  No Home Record
  • 09. Banks  III
  • 10. Moor Mother  Analog Fluids of Sonic Black Holes
  • 11. Cherry Glazerr  Stuffed and Ready
  • 12. Louis Sclavis  Characters on a Wall
  • 13. Julia Kadel Trio  Kaskaden
  • 14. Lena Andersson (Kyoka & Ian McDonnell)  Söder Mälarstrand
  • 15. Grischa Lichtenberger  re: phgrp
  • 16. Kate Tempest  The Book of Traps and Lessons
  • 17. SØS Gunver Ryberg  Entangled
  • 18. Fennesz  Agora
  • 19. Puce Mary  The Drought
  • 20. John Luther Adams  Become Desert

 

Ecker & Meulyzer und Surachai habe ich nicht als haptische Tonträger; deshalb lasse ich die mal raus aus der Liste. Ich höre die Musik einfach bewusster an, wenn ich sie über meine Stereoanlage und mit einer haptischen, altmodischen Verpackung genieße und durchdringe. Habe und höre ich etwas als MP3, ist das allerdings oftmals Anlass und Auslöser, eine LP noch real zu erwerben, so etwa bei Stuffed & Ready, der dritten Platte des kalifornischen Trios Cherry Glazerr um die gerade mal anfangzwanzigjährige Clementine Creevy. Das ist eigentlich das wunderbare neofeministische Alternative-Rockalbum mit verzerrten Gitarren und mitreißenden Refrains, das ich gerne von Sleater-Kinney gehört hätte (deren Comebackalbum Cities to Love fand ich 2015 super, auch wenn ich es erst 2016 so richtig „entdeckte“ und schätzen lernte, aber ihr neues Album erreichte mich nicht, zu glatt und unschlüssig). Nur weiß ich noch nicht ganz, wohin mit den Alben von Nick Cave (Ghosteen), Shed (Oderbruch), Function (Existenz), Klein (Lifetime) und Matana Roberts (Memphis) – alles Alben, die neue Wege gehen und Perspektiven in ihrem jeweiligen Genre öffnen und die ich daher ebenfalls sehr empfehlen kann.

 

 

Abschließend zum Jahresende hier noch rund ein Viertel meines zweistündigen Gesprächs mit David Torn in seinem Studio in Bearsville bei Woodstock (nur wenige Minuten von den Häusern von Marilyn Crispell, Carla Bley und Steve Swallow entfernt, zu denen in Bälde Interview-Videos online sein werden). Er erzählte ungemein viele spannende Sachen, über ECM, über Bowie, Madonna, Hendrix und das Woodstock-Festival (er fuhr damals als 16-Jähriger zum Festival, Hendrix war zentraler Einfluss für seine Laufbahn als Musiker), aber natürlich kann nur weniges davon in diesem Video Raum finden. Es ist ohnehin etwas lang geraten, aber ich fand es einfach zu toll, wie er diese Geschichten aus den Achtzigern erzählte.

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6 Comments

  1. ijb:

    Ah, als PS noch drei nachhaltige Entdeckungen, die ich erst 2019 gemacht habe:

    1. Vor allem The Cure. Ich hatte mich nie besonders für die Band interessiert, von Singles (Galore) abgesehen, nicht mal, als ich Paolo Sorrentinos Film This Must Be The Place (aka Cheyenne) mit seinen Eigenheiten und der stark gezeichneten, an Robert Smith angelehnten, Hauptfigur und ihrer Geschichte sehr gerne mochte… — richtig toll fand ich von The Cure immer Wrong Number, eine Single, die nur auf dem Hits-Album von 1985 bis 1996 zu finden ist, und Burn vom Soundtrack zum Film The Crow.
    Aber ausgelöst von musikalischen Rückblicken ins Jahr 1989 und speziell einem großem Bericht zu The Cures nach allgemeiner Meinung bestem Album Disintegration habe ich nach und nach einen großen Teil des Werks der Band erstmals angehört, vor allem alle Alben, die sie bis 1990 herausgebracht haben. Und was soll ich sagen – da musste ich mindestens 40 Jahre alt werden, um diese Reihe großartiger Alben zu entdecken und sofort davon begeistert zu sein. Speziell Pornography (1982), The Head on the Door (1985) und Kiss Me Kiss Me Kiss Me (1987) sind ganz große Klasse, aber auch vieles auf der Extended-Mixes-Zusammenstellung Mixed Up (erhältlich in einer supergünstigen 3-CD-Edition) und ihr Debüt Three Imaginary Boys aus dem Jahr 1979 ist toll. Aber eigentlich kann ich alle Platten empfehlen.

    2. Harriet Tubman (ein Trio mit Gitarre, Bass und Schlagzeug) + Wadada Leo Smith: Araminta (2017) — politisches Power-Jazz-Trio trifft den Meister

    3. Phillip Boa and the Voodooclub: Diamonds Fall (2009) — als jemand, der eigentlich das gesamte Werk von Phillip Boa in all seinen Höhen und Tiefen kennt, hatte ich dieses Album immer als langweilig und mittelmäßig abgespeichert und verräumt. Ein Meisterwerk ist es nicht — aber ein sehr schönes Songalbum. Und Jaki Liebezeit war auch dabei.

  2. Jochen:

    I enjoyed the Torn-Talk. He is one of my guitar heros – if he had a long white beard additional to his lion mane I´d say: a real guru ;)

  3. Jan:

    Schön, hier auf The Cure zu stoßen — Disintegration, Pornography und Bloodflowers waren immer meine Favoriten, aber ich muss sie mal wieder hören. Es ist Jahre her …

    In meine Top-Alben würde ich inzwischen noch “Spätes Leuchten” von Altmeister und Chefgärtner André Heller aufnehmen. So ein Album habe ich von ihm nicht mehr erwartet. Der Titel trifft es exakt.

  4. ijb:

    Hallo Jan. Da erinnerst du mich an was: Tatsächlich hatte ich vor vielen Jahren mal „Bloodflowers“. Vermutlich hatte ich es zu jener Zeit gekauft, als er rauskam. Meine Frau (die The Cure in ihrer Jugend sehr viel hörte) hat die CD noch; muss sie mal wieder anhören.

  5. Uli Koch:

    Hallo Ingo, vielen Dank, da sind noch einige gute Entdeckungen bei Deiner Jahresübersicht dabei: PYUR, Ecker&Meulyzer und Nkisi werden es bei mir nur knapp nicht in die Top’s schaffen und natürlich der immer gute Hinweis auf The Cure.

    Bin Anfang der 80er mit Freunden auf einem Fest in einer Schwulen-WG in einer weiträumigen Villa im Frankfurter Westend. Die hohen Wände in elegantem Rosa gestrichen, dazwischen die vielen obskuren Schraubenzählmaschinen, die den Wohlstand der WG begründeten. Ein gigantisches Musikzimmer mit bassresistenten Fischen in einem riesigen Aquarium, ein weiterer großer Raum zum Tanzen. Beim Eintreten packt mich einer der heftigsten Chillmomente meiner Musikhistorie: „Faith“ von The Cure. Diese eigenartig rollenden Grooves von Lol Tolhurst, die schmachtende Verlassenheit und Grabesatmosphäre des Gesangs von Robert Smith, das fahlgraue Cover. Ein Lifer, dieses Album fasziniert mich noch immer und es gibt auch über 30 Jahre später immer noch Stimmungen, wo ich es liebe einfach nur „Faith“ zu hören … mein absolutes Lieblingsalbum von The Cure, die ich in ihrer Spätphase dann mehr und mehr „aus den Ohren“ verloren habe und als ich sie dann mal hörte, schon etwas enttäuscht war.

  6. ijb:

    Da die meisten Mitautoren „Archive Releases“ (alias Box-Sets und dergleichen) listen, möchte ich dazu auch noch eine Hinzufügung machen, die bislang noch niemand erwähnt hat (die meisten der erwähnten sind mir nicht vertraut, mit Ausnahme von Apollo wahrscheinlich (wobei ich das nicht so wirklich als Archive Release betrachten würde), aber ich habe mich sehr gefreut, dass Uli ebenfalls Massive Attacks Meisterstück Mezzanine, das auch 2019 noch alle anderen Neuveröffentlichungen in den Schatten stellen würde, als „groundbreaking“ erwähnt hat – wobei das offiziell ja schon zum 2018er 20. Jahrestag erschien):

    Princes 1999 mit 5 CDs + 1 DVD, darunter 2 volle CDs mit unveröffentlichten Sachen aus des Prinzen sagenumwobenem Tresor und zwei Konzerten aus dem Jahre 1982. Toll, dass der alte Klassiker nach all den Jahren endlich mal in einer klangtechnisch aktualisierten Fassung herauskam. Das war schon bei Purple Rain ein lange überfälliges Vergnügen.

    Zitat „This five-disc set, which includes concert footage, B-sides, and demos, delivers what box sets of this kind almost never do: the thrill of discovery.


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