Manafonistas

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2019 3 Dez.

Gesammelte Schätze, als Zerrbild

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags:  | Comments off

Vielleicht wächst man in eine solche Lebenshaltung hinein. Als ich aufs Gymnasium kam, waren in meiner Klasse 39 Schülerinnen und Schüler. Es hätte nur einer gefehlt, um eine weitere Klasse zu bilden, aber sie hatten vor auszusieben. Damit nicht einige Schüler ein ganzes Jahr in die letzten Reihen verdammt waren, führte die Klassenlehrerin ein routierendes System ein. Jeden Montag wechselten wir die Plätze, immer eine Reihe weiter nach hinten, und wenn wir in der letzten Reihe angekommen waren, mussten (oder durften) wir in der kommenden Woche in der ersten Reihe sitzen. Wir behielten das jahrelang bei. Irgendwann fiel mir auf, dass die Schrift der Lehrer vorn auf der Tafel immer verschwommener wurde, je weiter hinten ich saß. Ich versuchte es, logisch zu erklären, aber Beate, meine Banknachbarin schien keine Probleme damit zu haben. Besonders dramatisch: die Folien mit ihrer winzigen Schrift, die der Erdkundelehrer so gern auf den Overheadprojektor legte. Ich hielt lange durch, gewöhnte mich an eine gewisse Unschärfe, die die Welt für mich weicher werden ließ. Es lag immer etwas dazwischen. Ich fühle mich gleichzeitig unsicher und geschützt. Mein Vater sagte, wenn du achtzehn bist, bekommst du Kontaktlinsen. Als ich meine erste Brille aufsetzte, war ich schockiert von der Brutalität der Schärfe: die Brillengestelle im Optikerladen, der Blick in den Spiegel. Draußen die Straße mit ihren Schildern, weit weg, und dennoch: spontan lesbare Schrift. Alles war gleichzeitig da. Mir wurde so schwindlig, dass ich mich setzen musste.

Zwei Takte rhythmisches Saxophonspiel.

Die ganze Aufregung liegt leider in der Unschärfe. Im flüchtigen Wahrnehmen und im blinden Rausch liegt das ganze Glück.

Das erste Bild: ein misslungenes Foto. Da ist eine Wiese, am Horizont eine Reihe von Bäumen. Darüber eine Schicht von Farblosigkeit und Grau. Im Vordergrund ist nichts erkennbar, weil alles weiß und überbelichtet ist. Es sind erst zwanzig Sekunden, und schon weiß ich, dass ich den Film mögen werde. Die Sätze, die Sprache, die Stimme. Die Bilderwelt, die sich entzieht. Weil die Welt damit angefangen hat, sich zu entziehen. We should synchronize.

Eine junge Frau mit dunklem Haar ist hier unterwegs. Ist egal, ob es ein kleiner verlassener Flugplatz ist oder was anderes. Alles ist in ihren Gedanken, auch wenn es den Mann wirklich geben wird, den sie an einem Tag im Februar getroffen hat. Ein Magier, der immer verschwindet. Auch wenn es die Zeichnungen aus Kohlestift gibt. Portraits, die sich verwandeln. Das Gespräch mit einer Freundin, und das Mädchen, das ihre Hand erst hält und später einfach davonrennt.

 

Gudrun Krebitz: Achill (2012). Länge: 8:53, verfügbar bis 20.12.2019 unter diesem Link.

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