“Das Leben: Gebrauchsanweisung“
„Ein Buch, das man jedes Jahr mindestens einmal lesen sollte.“ Harry Rowohlt hat das über ein Buch gesagt, das bei mir schon jahrelang darauf wartet, gelesen zu werden. Es handelt sich um ein höchst seltsames Werk, das schon von der äußeren Erscheinung Respekt einflößt. Geliefert wird das Ganze in einem Karton, dort finden sich neben dem eigentlichen 850 Seiten starken Buch, ein Beiheft mit Marginalien und ein Tütchen mit einem Puzzle. Der Verlag „Zweitausendeins“ brachte das Werk in deutscher Sprache im Jahre 1982 als erster heraus, der Titel: “Das Leben: Gebrauchsanweisung“, die französische Originalausgabe “La Vie mode d´emploi“ erschien 1978, der Autor war Georges Perec. Der Schweizer Diaphanes-Verlag, Zürich, gab das Buch (und überhaupt das ganze Werk des Autors) 2017 neu heraus, sodass man “Das Leben: Gebrauchsanweisung“ jetzt für bezahlbare 25,00 Euro kaufen kann, während die Bücher früherer Zweitausendeins-Auflagen, die mit Beiheft und Puzzle geliefert wurden, kaum unter 100,00 Euro zu haben sind.
Georges Perec, geboren 1936 in Paris, wuchs als Sohn polnischer Juden in Frankreich auf, musste die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. 1940 starb sein Vater, der als Freiwilliger in der französischen Armee gedient hatte, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort vergast. Ein letztes Mal noch sah Georges Perec seine Mutter am Bahnhof Gare de Lyon, dann musste er als kleines Kind von sieben Jahren von seiner Mutter Abschied nehmen, das Trauma seines Lebens.
Das Kindheitstrauma (der Vater stirbt, die Mutter verschwindet) versuchte er mit Hilfe von Psychoanalysen zu überwinden, aber eben auch durch das Schreiben von Romanen. Wenn Perec, man nennt ihn zurecht gerne den französischen James Joyce, etwa einen Roman schreibt, in dem der Buchstabe “e“ komplett fehlt, dann ist das eben keine bloße Spielerei, sondern verweist auf das “Verschwinden“ als Lebensthema. Überhaupt muss man wissen, dass Perec sich der “Oulipo“ der „l’ouvroir de littérature potentielle“, (Werkstatt für potenzielle Literatur) verbunden fühlte. Autoren dieser Vereinigung gaben sich Regeln auf, nach denen sie schreiben wollten, man verzichtete auf Buchstaben, schrieb auf Grund mathematischer Vorgaben usw. …
“Das Leben: Gebrauchsanweisung“ stellt in dieser, aber auch anderer Hinsicht ein Meisterwerk dar. Perec nimmt von einem Pariser Mehrfamilienhaus die Fassade weg und schaut nun, wie in eine Puppenstube in die verschiedenen Räume des Hauses, von den einzelnen Wohnräumen, Schlaf- und Badezimmern, Fluren, Treppenhäusern, bis hinunter in den Heizungsraum, den Kellerräumen, dann wiederum über den Fahrstuhlschacht bis hinauf in die Dienstmädchenzimmer. Die Beschreibung der einzelnen Räume und deren Gestände, sowie deren Geschichten erfolgt nun höchst regelgeleitet. In 99 Kapiteln werden mindestens 107 Geschichten erzählt, zu Ende erzählte, unvollendete, wahre und erfundene Geschichten, spannende, informative und einfach nur interessante Erzählungen, die manchmal etwas miteinander zu tun haben, meist aber nicht, 1467 Personen kommen in den “Romanen“ (so der Autor) vor.
Aber nun springt der Perec nicht einfach von Raum zu Raum, nein, auch hier folgt er einer Regel: „ Er hat sich das Ganze aufgerastert auf ein zehn mal zehn Felder großes Schachbrett und setzt einen Springer darauf. Und dieser Springer muss auf seinem Parcours jedes Feld einmal – und nur einmal – besetzt haben. Das ist ein mathematisches Problem, das man lösen kann, und das ist jetzt die Regel für die Kapitelfolge in dem Werk.“ (Jürgen Ritte)
Erzählt wird, wie im wahren Leben, von Handwerkern, Arbeitern, Rechtsanwälten, Ärzten, Mördern, Erpressern, Spekulanten und vielen mehr. Im Mittelpunkt steht allerdings doch eine einzige Person, ein Millionär, seine Name Bartlebooth. Wer erinnert sich nun nicht an Melvilles „Bartleby“, dem bei einem Notar beschäftigten Kopisten, der früher einmal in einem Büro der Post gearbeitet hatte, in dem er mit unzustellbaren Briefen beschäftigt war, und nun mit den Worten „I would prefer not to“ mehr und mehr aus der Welt verschwindet und schlussendlich stirbt.
Unser ziemlich seltsame, sehr reiche Bartlebooth nun, hatte die Idee, sich zunächst einmal im Malen von Aquarellen ausbilden zu lassen, um dann eine Weltreise zu unternehmen und 500 Häfen zu besuchen und zu malen. Diese 500 Aquarelle schickte er an Gaspard Winckler, der die Bilder auf Holzplatten aufzuziehen und Puzzles daraus zu fertigen hatte. Auch er wohnte, wie Bartlebooth, in unserem Haus.
„Die Kunst des Puzzles beginnt mit den von Hand ausgeschnittenen Holzpuzzles, wenn der, der sie fertigt, sich alle Fragen zu stellen sucht, die der Spieler lösen muß. … Jede Gebärde, die der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller vor ihm bereits gemacht; … jedes Tasten, jede Intuition, jede Hoffnung, jede Entmutigung, sind von dem andern ergründet, auskalkuliert, beschlossen worden.“ (Das Leben: Gebrauchsanweisung S. 15 und Kap 44, S 316f).
Von den Weltreisen heimgekehrt, wollte Bartlebooth diese Puzzle-Teile wieder zusammensetzen. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
Für alle, die jetzt eher davor zaudern, das Buch zu lesen, sei noch einmal Jürgen Ritte, Professor an der Sorbonne und Perec-Experte, zitiert: „ … man (kann) das Buch mit einem unglaublichen Spaß lesen, mit einer unglaublichen Freude, mit einem Lustgewinn an den ganzen Geschichten, die er da zusammenerfindet und uns erzählt, ohne dass man diese Regeln kennt. Das sind Regeln, die ihm, dem Autor, helfen, etwas zustande zu bringen. Man kann sich daran erfreuen, dass man sie erkennt, dass man sie identifiziert, aber es funktioniert auch sehr, sehr gut, wenn man diese Sachen gar nicht weiß.“ Zum Schluss eine Kostprobe aus dem Roman:
Manchmal stelle er sich vor, das Haus sei so etwas wie ein Eisberg, dessen Stockwerke und Dachgeschosse den sichtbaren Teil gebildet hätten. Jenseits der ersten Ebene der Keller hätten die unter Wasser liegenden Massen begonnen: Treppen mit schallenden Stufen, die sich um sich selbst drehend nach unten führen würden, lange gekachelte Korridore mit von Metallgittern geschützten Kugelleuchten und mit Totenköpfen und gemalten Inschriften gekennzeichnete Eisentüren, Lastenaufzüge mit vernieteten Wänden, mit riesigen, unbeweglichen Propellern ausgestattete Lüftungsschächte, Feuerwehrschläuche aus metallüberzogenem Tuch, dick wie Baumstämme, auf gelbe Schieber von einem Meter Durchmesser gerichtet, zylindrische Schächte, direkt in den Felsen gebohrt, betonierte Stollen, stellenweise von Luken aus Milchglas durchbrochen, Verschläge, Bunker, Kasematten, mit Panzertüren versehene Tresorräume. Weiter unten gäbe es so etwas wie das Keuchen der Maschinen und für Augenblicke mit rötlichen Lichtern ausgestrahlte Vorräte. Enge Verschläge gingen auf riesige Säle, auf unterirdische Hallen hoch wie Kathedralen, mit Gewölben über und über von Ketten, Rollen, Kabeln, Röhren, Kanalisationsleitungen, kleinen Eisenträgern bedeckt ….“ (Vierundsiebzigstes Kapitel: Maschinenraum des Aufzugs 2 , Seite 563)
Natürlich spielt auch Musik in diesem Buch eine gewisse Rolle, genannt werden die Komponisten Paul Dukas (1865-1935), französische Komponist; Johann Sigismund (Kusser oder Cousser), deutscher Komponist, ungarischer Abstammung (1626-1695); Franz Liszt (1811-1886) und Frédéric Chopin ( 1810-1849). Zuweilen werden auch besondere Stücke genannt: W.A. Mozart: „Türkischer Marsch“, „Smanie implacabili che m´agitate“ (aus Cosi Fan Tutte); Claude Debussy: „Children’s Corner“, Gerry Mulligan: „Far East Suite“; Hans Neusiedler: „Tänze“.
Übrigens, ein paar Tage vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec am 3. März 1982 an Krebs.