Manafonistas

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Archives: November 2019

2019 20 Nov.

2 x Live

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Jeder hat sich wohl schon mal die Frage gestellt, wozu man ein Live-Album braucht, wenn man das Studioalbum schon hat. Zwei Live-Alben liegen auf dem Tisch und zeigen, dass sie durchaus ihren Sinn haben können.

John Fogertys neues, lange angekündigtes, Studioalbum lässt weiter auf sich warten. Statt dessen, sozusagen als eine Art Ansichtskarte zwischendurch, gibt es ein Live-Album, mitgeschnitten irgendwann dieses Jahr im Red Rocks Amphitheater in Denver. Nichts wirklich Neues, eher ein „Greatest Hits“, aber in jedem Fall eine gute Ergänzung zum kürzlich veröffentlichten Woodstock-Auftritt der Creedence Clearwater Revival (siehe auch hier). Denn genau darum geht es: John Fogerty feiert sein 50-jähriges Woodstock-Jubiläum mit alten CCR-Nummern und Stücken von seinen Soloalben. Dass er stimmlich nicht mehr die Durchschlagskraft des Woodstock-Auftritts hat — sei’s drum, man erkennt ihn trotzdem noch, und als Gitarrist hat er seit 1969 eine Menge dazugelernt. Mit dabei Johns Söhne Shane (Gitarre, Gesang), der inzwischen selbst ein respektabler Gitarrist geworden ist, und Tyler (Gesang), dessen Zukunft nach meinem Eindruck eher hinter den Kulissen zu liegen scheint, auch wenn ich schon schlechteren Gesang gehört habe. Kenny Aronoff am Schlagzeug trommelt wie gewohnt Volldampf, Bob Malone (keyboards) und James Lomenzo (bass) halten mühelos mit. Das Ganze klingt selbstverständlich anders als zu CCR-Zeiten: Es klingt so, wie John Fogerty die Stücke heute spielt. Auf eine Nummer wie „Rock’n’Roll Girls“ hätte man verzichten können, aber die meisten Fogerty-Kompositionen sind und bleiben unkaputtbar.
 
 

 
 
Die Überraschung des Albums in der mir vorliegenden Doppel-CD-Version („Walmart-exclusive“; und da Walmart keine ausländischen Kreditkarten akzeptiert, wird diese Version in Europa nur auf Umwegen zu beziehen sein) sind unmittelbare Woodstock-Memories: Coverversionen von „With A Little Help From My Friends“, „My Generation“, „Everyday People“ (das mich heute genauso wie im Original nervt), „Dance To The Music“ und „Give Peace A Chance“, mit Soulgesang (Trysette Loosemore und Lavone LB Seetal) „wie echt“ und ebensolchem Soulgebläse, sind zu hören, und das durchaus hörenswert. Der einzige Missgriff ist Shane Fogertys „Star-Spangled Banner“-Solo — schräge Gitarrensounds mit viel Echo, aber es zeigt letztlich nur, wieviel mehr der Meister draufhatte. Na gut, das Stück hängt am Ende von CD 1 — man hat sich wohl gedacht: Dort stört es am wenigsten.

Um die Verwirrung komplett zu machen, gibt es anscheinend zwei verschiedene 1-CD-Versionen des Albums; eines enthält die Woodstock-Nummern, ein anderes nicht. Im Zweifelsfall darauf achten, welches man bestellt. Es gibt das Konzert auch als DVD und Blue-ray Disc. Vor deren Veröffentlichung wurde das Konzert am 11. November (dem Veteran’s Day) per Satellit in 500 ausgewählte amerikanische Kinos übertragen — allerdings offenbar mit wenig Resonanz. Es gab kaum Werbung, zum Teil gab es technische Probleme, in etlichen Kinos erschien nur eine Handvoll Zuschauer.
 
Das zweite Album, ebenfalls eine Doppel-CD, ist merkwürdigerweise dichter an Fogerty dran als man vermuten könnte: David Byrnes American Utopia on Broadway.
 
 

 
 
Die Studioversion dieser Show war letztes Jahr unter meinen Jahres-Top-Ten. Die hier von Byrne und einer elfköpfigen Band präsentierte Live-Fassung aus dem Hudson Theater am New Yorker Broadway ist aber noch um einiges mitreißender, selbst ohne die Choreographie von Annie-B Parson. Das liegt allerdings weniger an den Utopia-Songs, die streckenweise etwas gewöhnungsbedürftig waren, sondern — und das verbindet dieses Album mit Fogertys — an dem mindestens halben Dutzend alter Talking-Heads-Titel, die sich nicht nur fugenlos ins Programm einpassen, sondern den neuen Stücken an Power sogar noch überlegen sind. Es ist verblüffend, wie wenig Tracks wie „Burning Down The House“, „I Zimbra“ oder „Once In A Lifetime“ gealtert zu sein scheinen, obwohl sie um die 40 Jahre auf dem Buckel haben.

Was soll man sagen: American Utopia on Broadway erinnert unweigerlich an Stop Making Sense, der für mich noch immer ein maßstabsetzender Konzertfilm ist. Und die Frage, ob man das Livealbum braucht, wenn man das Studioalbum schon hat, erledigt sich beim Hören von selbst. Ich kenne die DVD noch nicht, bin aber sicher, dass auch sie das Anschauen wert ist.

2019 19 Nov.

Bauhäusler aus Bern: Klee und Itten

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Gelöstheit in einem vorgegenständlichen Sein heißt Gelassenheit: sie meint den Aufenthalt in einer Sphäre, die noch mehr eine seelische Kugel ist als eine Welt auskristallisierter fragmentierter Objekte. Sofern diese Seinsweise erwachsenen, im Konflikt gehärteten Subjekten noch möglich sein soll, dann nur, wenn sie sich in die Welt wie in einen Strom voranschreitender Geburt einlassen. Der Strom meines Zur-Welt-Kommens fließt stetig nach „vorn“, sowie der Zeitpfeil gelingender Therapien unbeirrt nach vorne weisen muß. In diesen Fluß steigen die glücklichen Naturen – William James nannte sie einst die ONCE BORN – nur einmal, die problematischen Naturen zweimal oder öfter. Je öfter man neu beginnen muss, desto besser weiß man Bescheid über Gründe, am Dasein Anstoß zu nehmen. Je mehr ein neuer Anfang gelingt, desto eher wird ein früheres Scheitern zum Anstoß einer anderen Geschichte.

(Peter Sloterdijk – „Welthaß und Neuanfang“, in: Weltfremdheit, 1993)

 
 

 
 

The Affair – Season Five: „Supermoon“ (Episode Six)

2019 18 Nov.

Japanese Jewels (14): Spaces

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Yosi Horikawa ist ein Klangjäger, der seiner akustischen Umgebung mit einer unglaublichen forschenden Neugier begegnet und kompromisslos auf musikalische Verwendbarkeit untersucht. Dafür begibt er sich mit seinem Mikrofon gerne auch auf Reisen, um neue Klänge zu finden und ringt einfachen Naturgeräuschen, wie dem Tropfen des Regens oder dem Klopfen auf trockenen Steinboden songkompatible Dimensionen ab.

Yosi Horikawa ist ein Räumesammler, der nicht nur die einzelnen Klänge zu erfassen versucht, sondern der sich für die räumliche Entfaltung eines jeden gefundenen Klanges besonders interessiert und mit dieser dann spielt wie manch anderer auf einem Konzertflügel. Dazu hat er sich ein spezielles Mikrofon gebastelt, dass die räumliche Ausdehnung eines Geräusches im gesamten dreidimensionalen Raumes erfasst und experimentiert dann damit diese vielen, so gewonnenen Mikroräume in seine Stücke wie in ein gigantisches 3D-Puzzle auf‘s subtilste einzubauen. Dieses Video gibt einen anschaulichen Eindruck von seiner Arbeitsweise und sein neues Album wird in seinem Namen Spaces dem Anliegen mehr als gerecht.

Nun könnte man schnell vermuten, dass sich das Ganze sehr experimentell und akustisch eher schwierig anhört, aber neben der ambienten Seite hat Yosi Horikawa sehr viel Freude an einer, mitunter skurrilen, Tanzbarkeit, die mit akustischen Vexierräumen scheinbarer Normalität fast wie beiläufig spielt. In Timbres stolpert er so absichtsvoll, wie scheinbar unbeholfen in sein neues Album hinein, in Crossing wird eine Straßenszene ganz weit und unversehens zu echt grooviger Musik und in Chiba wird die ländliche Klangkulisse seiner Heimatpräfektur ganz plötzlich zum Club und  der Satz „the chicks are grooving“ bekommt auf einmal eine ganz andere Bedeutung. So gut hat das bisher – aber weit weniger tanzbar  – nur Paul Frick geschafft. Vietnam und Swashers greifen ebenfalls in wunderbarer Perfektion lokale Klangraumbesonderheiten auf, Moldy Vinyl holt uns in die kaputten Zeiten ausgelutschten Vinyls zurück und zeigt, welcher Zauber da übersehen worden sein muss. Mine tanzt und In The Wind lässt die Lüfte tanzen und Fluid die Vielfalt aquatischer Klangfarben. Longing schwingt auf ganz eigene Weise und schließlich schließt dieses im wahrsten Sinne des Wortes phantastische Album mit einer Reise in die Weiten eines höchst fiktiven Afrika mit Nubia. Selten ein so tiefsensibles Album gehört, das aus den feinsten Klängen des Alltags in größtmöglicher räumlicher Auflösung ein so wunderbar komplexes, polyrhythmisches und tanzbares Universum erschafft, das sich weit jenseits jeglicher denkbarer Dreidimensionalitäten zu einem absolut hörenswerten, warmen und organisch anmutenden Abenteuer entfaltet.

 
 

2019 16 Nov.

Tagesnotiz

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Nicht in der Karibik, leider nur im Internet surfte ich gestern. Eher zufällig schweifte der Blick dabei über einen Satz von Jiddu Krishnamurti, in dem es sinngemäss hiess, wir Menschen seien schlichtweg nicht in der Lage, uns unserer realen Lebenssituation zu stellen. Dies liesse sich ergänzen mit einer Verszeile aus Joni Mitchells wundervollem Song „Both Sides Now“: „Dreams and schemes and circus crowds – I’ve looked at life that way.“ Ja, die schnellen Illusionen sind es, die wir gerne abrufen. Placebo-Effekte haben Hochkonjunktur: sie sind verkaufsfördernd, werbewirksam und helfen der Wirtschaft auf die Sprünge, denn die muss stetig wachsen. Ich las Lajlas Beitrag „Im Osten viel Neues“, mit den Verweisen auf Carl Jaspers, bei dem ja auch Ernst Albrecht studiert hatte. Mich machte das einst neugierig und ich war sehr verblüfft, welchen gedanklichen Scharfsinn ich bei dem gebürtigen Oldenburger fand, der sich ja auch auf dieser reizvollen Grenzlinie zwischen Philosophie und Psychologie bewegte. Die stillen Tage abseits vom Klischee, als man die Vita und so manches Werk von Denkern wie einen Krimi las: leider bleibt vieles nur noch schemenhaft abrufbar. Massgeblich für mich war immer, dass ein agnostisches Verdachtsmoment gegen Glaube und Kirche mit im Spiel war. Auch beim Manatreffen morgens vor der Abfahrt schnitten wir das Thema an. Ein Sloterdijk-Satz erschien mir interessant, war aber unklar. Demnach werfen die monotheistischen Religionen einen paranoiden Schatten. Uli und Lajla erzählten Erhellendes dazu.

 

Am Samstagnachmittag, unsereins gerade auf dem Sprung, da bimmelt es. Nanu, zwei unbekannte Männer, ein bisschen so wie Asterix und Obelix, überreichen mir einen Prospekt. „Es geht um prinzipielle Fragen!“, sagt der vor dem Dinkelstein stehende, kleindrahtig, weisshaarig, altnazihaft wirkend. Freundlich entgegennehmend signalisiere ich, an weiterem Gedankenaustausch nicht interessiert zu sein und so endet die Begegnung im gegenseitigen Wünschen eines schönen Wochenendes. Soweit die kleine Overtüre. Im Fortgang folgt nun die gedankliche Pirouette, die Zeugen Jehovas mit dem Pianospiel von Kris Davis, ferner mit meiner Mutter und einer generellen Liebe zur Jazzmusik in Verbindung zu bringen.

Beim Hören des Stückes „Saturn Return“ aus dem Album Aeriol Piano jener geschätzten Pianistin kamen zwei Assoziationen auf. Es war zu der Zeit, als die öffentlichen Bibliotheken zu einem Pilgerort wurden und ein autodidaktisches Studium geisteswissenschaftlicher Gebiete ermöglichten: zur spannenden Lektüre gehörte auch das Buch Im Zeichen des Saturn von Susan Sontag. Symbolische Eigenschaften wie Lebensernst, Kargheit, Begrenzung und Angst wurden dort gewissen Denkern zugeschrieben, wie beispielsweise Emile Cioran und Walter Benjamin. Mehr noch aber erinnerte mich die von Davis vertonte Rückkehr dieses Sterns in ihrer Spielweise an einen Traum, den ich als Jugendlicher hatte.

Im elterlichen Wohnzimmer war mein Lieblingsplatz in der Ecke direkt neben dem Beistelltisch, auf dem das Röhrenradio und der Plattenspieler standen. Der weite Ausblick durch das grosse Fenster, über Felder und Höfe hinweg, hinab ins Flusstal, am Horizont die Waldböschung: das tat sein Übriges für ein gewisses „erhabenes“ Lebensgefühl. Der Grossvater sass mir schräg gegenüber. Wir hörten oft gemeinsam Marschmusik, eine Sendung im Radio, die für uns Kult war, uns in Ekstase trieb, Generationen übergreifend: ich marschierte fröhlich im Wohnzimmer umher, Opa lachte, drehte an seinem Hörgerät für den optimalen Sound. Für mich war Marschmusik stets der originäre Vorläufer des Rock´n Roll.

Es klingelt an der Tür. Ist es der Bäcker, der Drogerist, die wöchentlich vorbeikommen, hier auf dem Lande? Nein, oje: schon wieder die Zeugen Jehovas! Die Mutter öffnet die Haustür, will freundlich verständnisvoll abwimmeln. „Aber nein, es ist etwas für ihren Sohn. Es würde ihn erfreuen!“ Die offenherzige Mutter lässt sie ins Wohnzimmer und der Mann legt ein Holztablett auf den Tisch, zieht aus der Tasche eine dreieckige Papiertüte, ähnlich jener, in der man auf dem Bremer Freimarkt alljährlich gebrannte Mandeln kauft. Er schüttete den Inhalt aufs Tablett. Es sind goldenfarbene Heftzwecken, die auf dem Tablett zu tanzen beginnen und dabei Töne produzieren. Ich bin verblüfft und begeistert.

Diese tanzenden Heftzwecken waren dann ein beliebtes Motiv für erste surrealistische Malversuche, Daliesque und Tanguy-mässig, dargestellt vor weitem Horizont. Bis heute erinnern sie mich an die ungezügelte Freiheit tanzender Töne im Jazz und improvisierten Spiel. Auf der Gitarre entdeckte ich erst sehr spät die Lust und Fähigkeit, selbst auch annähernde Töne zu erzeugen. Viele Jazzpianisten, aber auch einige Gitarristen erwecken in mir diese Assoziation. Bei Kris Davis aber hat dieser Anschlag eine besondere Note. Die Musik ist frei ist von Botschaft, gänzlich unsentimental. Sie ist nicht spirituell, eher materiell, körperlich, spielerisch: stets Finten schlagend, Pirouetten drehend, Physikalität erzeugend.

Der graue Staub wirbelt über die Straßen des verlassenen Ortes, Bretter hängen von den Fassaden und viele Fensterscheiben sind zerschlagen. Die Anderen sind blind vom Staub. Selbst die Fußspuren verwehen in wenigen Minuten. Lost Places, die Schwingtür eines altertümlichen Saloons ist etwas aus dem Scharnier geschlagen und schlägt mit dem Wind an die gegenüberliegende Tür, die leise vor sich hin quietscht. Beim Eintreten in den dystopischen Saloon wirbelt etwas grauer Staub auf. Der Spiegel hinter dem Tresen ist matt und ein paar Spinnweben hängen in den Ecken. Es hätte schlimmer kommen können. Es ist kein Gast zu sehen und erst beim zweiten hinschauen entdecke ich im Halbdunkel einen dezent gekleideten Herrn fast bewegungslos neben einem zerschossenen Klavier auf einem Schemel sitzen. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und er greift zu einem größeren Objekt, das neben ihm auf dem Boden lag und hebt es auf, stellt es vor sich. Der Wind fegt etwas neuen grauen Staub in den Raum und der Herr wischt etwas unbeholfen ein schiefes Schild auf dem zerstörten Klavier mit der linken Hand ab und beginnt auf dem Objekt, das sich als Cello herausstellt, zu spielen. Lucy (overture), die Lichtbringerin an diesem düsteren Ort lässt Klänge wie ein kleines warmes Licht aufglimmen und dann …

Francesco Guerri erforscht seit seiner Begegnung mit Tristan Honsinger den Klangraum seines Cellos wie kein anderer. Von den Grenzen der freien Improvisation mit vielen bedeutenden Protagonisten experimenteller Musik über die unwegsamen Terrains experimenteller Tunings bis zu den ungewöhnlichsten Klängen, die er seinem Cello entlocken konnte, heruntergebrochen auf eine Ebene, wo sie laut seinen Worten selbst einem kleinen Kind verständlich sein sollte.

 
 

Ich suche unter den gefallenen Blättern und sammele winzige Fragmente der Welt. Ich behalte sie. Ich weise jedem einzelnen von ihnen seine Rolle und eine Ordnung zu. Es sind oft kleine Fragmente, die einen wilden Duft ausstrahlen, Samen des Lebens, die an mir haften und die ich mit mir trage, wohin ich gehe.

 
 

Das Cello ist ein Instrument bei dem eine warme erdige Eleganz ganz nah neben den rauen, fast verletzend schneidenden Klängen liegt, die kaum einen viertel Bogenstrich voneinander entfernt liegen und manchmal verstörend und intensiv zusammenfallen. Und Guerri geht noch weit hinter diese Grenzen, mal tanzend und sich komplex umrankend, mal fremd und einsam, indem lange Papierstreifen durch die Saiten gezogen werden, mal gezupft wie ein Kontrabass, wo das Cello fast zu singen beginnt, mal roh und rockig, mal dystopisch elegant und zum Schluss elektronisch verzerrt schwebend. Diese helle, kaum nahbare Leichtigkeit spürend kommen einige Leute von der Straße in den verstaubten Saloon, stehen vorsichtig am Rand des Raumes und hören schweigend und staunend, wie sich der Cellospieler in Trance spielt. Die graue Welt ist gerade ganz weit draußen, da kommen zwei Kinder von hinten hinein, der größere rennt mit einer Wasserpistole hinter dem kleineren her. Su Mimmi non si spara, ruft eine Frauenstimme von hinten, schieß nicht auf Mimmi! SCHIESSEN SIE NICHT AUF DEN CELLISTEN! steht auf dem immer noch halbverstaubten, schiefen Schild neben dem Spieler. Lauschen Sie der außergewöhnlichen und wunderbar schillernden Solomusik, die zwischen minimalistischen Strukturen, perkussivem Bogenspiel, fremdartigen Skalen und fast geräuschhaften Klängen, elektronischen Verzerrungen und treibenden Kräften in unberechenbarer Schönheit erklingt.

 
 

Was mir an Michaels Moderationen oft aufgefallen ist, waren Bemerkungen der Art, wie Musik ein Raumgefühl schafft, Räume öffnet und imaginäre Landschaften spürbar werden lässt. War mir der Gedanke – wir unternehmen hier einen großen Zeitsprung, bis ins vergangene Jahrtausend – zunächst noch unvertraut, wurde mir die Kategorie schließlich zu einem entscheidenden Element. Ich erinnere mich, damals lief Michaels Sendung noch vierzehntätig montags zwischen 1:05 Uhr und 2 Uhr, an eine Retrospektive über die aus Virginia stammende Gruppe Labradford, wie sie von Album zu Album karger wurden in ihren Kompositionen, abstrakter, und, bevor gar nichts mehr blieb, löste sich Labradford auf. Marc Nelsen als den Sänger von Labradford zu beschreiben, wäre übertrieben. Nelsen streute eher gelegentlich seine Sprache in die Klanggebilde ein. Ich empfand es als beruhigend. Ich besorgte mir alle Alben von Labradford, A Stable Reference (1995), Prazision LP (1993), E luxo so (1999), fixed: context (2000) und irgendwo dazwischen einfach nur Labradford. Wie die Landschaft immerzu in Bewegung bleibt, sich weitet, den Blick zum Himmel, zum Horizont, immer auf etwas irgendwie Schroffes. Jean Baudrillard schreibt in seinem Essay Amerika (1987) im Rahmen einer Gegenüberstellung Europa – USA: „Unser Freiheitsbegriff wird nie mit ihrem räumlichen und beweglichen konkurrieren können, der aus der Tatsache folgt, daß sie sich einst aus jeder historischen Zentralität befreit haben.“ Neulich las ich, zum zweiten Mal, die Autobiographie des US-amerikanischen Schriftstellers James Salter, Verbrannte Tage. Ich hatte von Salter die Erzählungsbände gelesen und einige Romane. Ausgezeichnet in Stil und Dramaturgie. Figuren, die sich in etwas verrennen. Salter hatte einige Zeit in Frankreich gelebt, in Deutschland, in Rom. Auch er beobachtete Unterschiede im Raumgefühl. Über Europa schrieb er: „Die wirklichen Einwohner beanspruchen keinen Raum.“ Seit 1998 veröffentlichte Marc Nelson seine Musik auch unter dem Namen Pan American. Er führte seine Arbeit mit elektronisch geprägten Alben von großer Ruhe fort, zum Beispiel The River Made No Sound. Renzo. Quiet City. cloud room, glass room. Für mich sind es Klassiker. Musik, die ich immer auflegen kann. Vorgestern erschien ein neues, wunderbares Werk von Pan American: A Son. Unter diesem Link könnt ihr das komplette Album hören. 

 
 

2019 9 Nov.

Le Monde selon Radiohead

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Gestern Abend lief auf ARTE eine sehr sehenswerte Dokumentation über Radiohead, die Entwicklung ihrer Arbeit, angefangen von ihrem Durchbruch mit dem Song Creep (1993) bis zu ihrem Album A Moon Shaped Pool (2016). Es geht um ihr politisches Engagement, Bezugspunkte ihrer Alben, Prägungen durch George Orwell, Naomi Klein, Noam Chomsky und Thomas Pynchon und den Zeitgeist der 70er und 80er Jahre. Der Film dauert 53 Minuten und ist unter diesem Link bis 6. Januar 2020 verfügbar.

 

2019 9 Nov.

Im Osten viel Neues

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Als ich kurz nach dem Mauerfall die Gelegenheit hatte, den Maler Wolfgang Mattheuer in Leipzig auf einer Fortbildung zu fragen, ob ihn die Wiedervereinigung als Maler inspirieren könnte, erhielt ich die sarkastische Antwort: „Wir ostdeutschen Künstler können auch ohne die Mauer malen.“ 1977 waren einige Maler aus der „Leipziger Schule“ auf der documenta 6 in Kassel ausgestellt. Ansonsten wurde die DDR Kunst eher stiefmütterlich als provinziell abgetan. In Düsseldorf gibt es jetzt eine großartige Ausstellung, die die hervorragende DDR Kunst zeigt. Käthe Kollwitz war die Lehrmeisterin von Elisabeth Voigt, deren Schüler waren Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke, die die Leipziger Schule mitbegründeten.

Werner Tübke habe ich in meiner Dresdner Zeit entdeckt und seitdem hat er mich nicht mehr losgelassen. Sicher kann man sagen, dass den Malern der DDR, auch Willi Sitte, Heisig, Neo Rauch das Leitmotiv, die komplizierte Syntax und die Kompositionsstrategie wichtig sind. Keiner ist aber so sublim, so extravagant mit Themen wie Leid, Schuld und Verstrickung umgegangen wie Tübke. Seine endlos erscheinenden Gemälde, wie das Bauernkriegspanorama oder „Arbeiterklasse und Intelligenz“, das in der neuen Uni in Leipzig hängt, zeigen sein ungeheuerliches Maltalent. Es ist nicht so, dass sich die Künstler der DDR nicht mit der Nachkriegszeit auseinandergesetzt hätten. Tübke’s Gemälde „Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III“, entstand nach dem  Auschwitz-Prozess.

 
 


 
 

Die berühmteren DDR-Ķünstler, wie Gerhard Richter, Gunther Ücker und A.R. Penck waren früh geflüchtet und waren alle Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf. Penck hatte es in Dresden sehr schwer. Ihm wurde Ausbildung und Ausstellung verweigert. Zwei Jahre nach dem Mauerbau entwickelte er ein Zeichensystem, das auf Unverständnis der Kulturpolitiker stiess, aber seinen Stil prägte. Er versuchte noch in Dresden, auf das Medium Film auszuweichen. Sein Film Terror in Dresden (1978) zeigt ein düsteres Dresdner Stadtbild, zu dem er später in den Nullerjahren in den Babelsberger Filmstudios auf dem Piano für Stummfilme eine punkige Filmmusik komponierte.

Einige Maler stiegen auf Schmalkamerafilme um. Die Malerin Cornelia Schleime z.B. war ständig unter Beobachtung, trotzte aber mit ihrer provozierenden Kunst, in der Hoffnung, dass sie ausgewiesen würde. Lakonisch nennt sie ihr Bild: Im Osten ist alles grau, im Westen gibt es bisschen Farbe. Auch sie versuchte sich im Film, stieg dann auch in die Punkszene ein. Sie gründete die Band „Zwitscherkiste“ und benutzte ihre Lieder als direkte Kommunikation. Das führte dann endlich zur Ausreise.

Andere Punk Bands hatten es richtig schwer, landeten im Gefängnis oder wurden aus dem Stand direkt ausgewiesen. Namen der Bands zeigen die damals vorherrschende Atmosphäre: „Ambulante Hospitanten auf dem Weg zum Hospital“, „Planlos“, „Attentat“, Wutanfall“. Die Bands konnten auf Austellungseröffnungen in Ateliers auftreten oder in Gemeinderäumen der Kirche, besonders in Halle. Die Punkszene bildete sich hauptsächlich zwischen 1970 und 1980.

 
 


 
 

In der Düsseldorfer Ausstellung „Utopie und Untergang“ entdeckte ich einen ostdeutschen Künstler, den ich nicht kannte, der mich an Karl Jaspers denken liess, der ja gegen die Wiedervereinigung war. Jaspers forderte die Freiheit der Selbstbestimmung für die DDR Bürger. Diese Freiheit hielt er für wichtiger als die Wiedervereinigung. Jaspers war auch Psychiater. Es ging ihm um den einzelnen Mensch, der er selbst werden soll. Hätten die Ostdeutschen diese Möglichkeit 30 Jahre ausprobieren können, würden sie sich nicht bis heute als Anhängsel der BRD bezeichnen.

Zurück zu meiner Entdeckung. Der Künstler heisst Carlfriedrich Claus. Von ihm sind „Sprachblätter“ ausgestellt, in denen sich Schriftzüge zu Bildern verwandeln. „Skizze zur Anonymität des Subjekts“ nennt er dieses kleine Werk, das mich an den großen Denker Karl Jaspers erinnerte.


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