Auf den Spuren der Obstdiebin – Eine herbstliche Reise in die Picardie
Und noch eins: für Zwischenzeiten sorgen, möglichst viele. Wie habe ich jedesmal aufgeatmet, und ruhiger geatmet, sooft eine dramatische Geschichte unterbrochen wurde mit einem „in der Zwischenzeit“. Die Zwischenzeiten, sie stehen in deiner Macht. Daß du sie dir nicht nehmen läßt! In den Zwischenzeiten, auf den Zwischenstrecken, da geschieht´s, da ereignet es sich, da wird’s, da ist´s. Suchen, innehalten, rufen, rennen, die Wälder, die kleinsten, vor allem die, durchstöbern, die Hauptstraßen, die Städte, die Weiler, vor allem die, peinlich in Augenschein nehmen, ja. Aber in der Zwischenzeit den Weg hinter den Gärten zu nehmen, das kann nicht schaden.
Das war an der Regionalbahnstation Saint-Christophe von Cergy, gedacht wohl als Zentrum der Zentren der Neuen Stadt, als Name jener der längst verschwundenen Kirche da, gewidmet dem einstigen Ortsheiligen, dem Christophorus, dem Fährmann, der einst auf seinem Rücken das Kind Christus, das dabei schwer und schwerer wurde, nachts über einen Fluß getragen hatte, über alle Flüsse, und so auch hier über den Fluß Oise. An der Stelle der Kirche Saint-Christophe steht nun, was das Wahrzeichen der Neuen Stadt sein soll, ein Stahlgerüst in Gestalt einer mindestens kirchturmhohen Arkade, unter die eine monumentale (Durchmesser zwölf? Sechszehn Meter – nachzuschauen im Internet) stählerne, im Raum zwischen den Speichen allerdings den Blick hinauf in den freien Himmel durchlassende Uhr angebracht ist, mit römischen Ziffern, von I bis XII.
Die Abteile hatten sich zwar nicht geleert, aber viele Plätze waren frei, und man konnte, weg von der engen Treppe, für sich sitzen, im Abstand zu den spärlich gewordenen anderen. Wir saßen? Wir lasen? Wir schauten aus den Zugfenstern? Wir seufzten? Nichts von gleichwelchem „wir“. Kein „wir“ mehr heute. “No Milk today, my love has gone away“? …
Hell war es zusehens geworden in den Abteilen, die offen ineinander übergingen, bis zum ersten Wagen vorn an der Lokomotive, wo ich saß mit dem Rücken zur Fahrt, bis zum letzten hinten, wo sich hinter der Glastür die Gleise wegspulten; hell von der nach Pontoise, und spürbarer noch, nach Osny und Bossy I´Aillerie, von Mal zu Mal weniger besiedelten, da und dort, wie auf Restflächen, kultivierten, mehr und mehr aber wie verwilderten Landschaft – die Strecke führte flußauf durch das Auental der Viosne _; hell von den, Halt für Halt, sich vergrößernden Leerräumen im Zug, die mich an weiße Stellen auf – nur den alten? – Landkarten denken ließen; …
Und gleich wieder ausgestiegen, an der in jeder Hinsicht unvergleichlichen Haltestelle von Lavilletertre, fern vom weder sicht- noch hörbaren Dorf. … Als einziger ausgestiegen, glaubte ich mich an der Station allein. Ein tiefes Ein- und Ausatmen, mehrmals. Da stand es wieder, das ehemalige Bahnhäuschen, längst geschlossen, und verrammelt. Immerhin war es frisch gestrichen, und würde vielleicht eines Tages neu geöffnet, nur: für wen? Keinen Schalter gab es mehr. Hatte es vielleicht nie einen gegeben? Aber auch kein Fahrkartenautomat irgendwo – eine der Unvergleichlichkeiten des Zughalts von Lavilletertre.
Weg von der Tierwelt. Heim in die Zivilisation, brav den regulierten Fluß entlang in die Stadt. Wie hieß doch das Lied aus dem anderen Jahrhundert, gesungen von Petula Clark für Amerika und darüber hinaus in die Welt “Downtown“. Ob freillich Chaumont-en-Vexin etwas wie eine Downtown hatte? Außerdem war sie, als Obstdiebin, in einer “Downtown“ nicht am Platz, war da nie am Platz gewesen, hatte sich, vor allem, da nie erwünscht gefühlt. Und wie tat es ihr not, wie bedürftig war sie, wie sehnte sie sich danach, sich endlich wo erwünscht zu finden. Wie im übrigen “downtown“ übersetzen? Mit “Innenstadt“? Nein. Downtown war unübersetzbar. (Noch so eine Unübersetzbarkeit.)
Es ist noch früh, lang vor dem Abend. Trotzdem sollten die Obstdiebin und ihr Begleiter allmählich aufbrechen. Sie sind aber immer noch in Chars, und zwar wieder in einem Lokal, dem Kebab-vis-à-vis dem “Cafe de l´Univers“. Wie das? Aus Entdeckerlust. Aus Forschungsgeist. Erforschen und entdecken in einer Bude an der Durchfahrtsstraße?
Zwar war das die Straße, die nach Dieppe an den Atlantik führte und auch so hieß, „Route de Dieppe“. Aber erst einmal war es zum Meer noch weit, gut hundert Kilometer nordwestwärts. Und außerdem: jetzt nur kein Meer, nur von hier nicht weg ans Meer. Hier ist es. Da spielt es sich ab, hier und jetzt im Landesinnern. Wahr: die „Route de Dieppe“, die Departementalstraße 915, nachdem sie die Ile-de-France verlassen hat, auf ihrem Teilstück quer durch den westlichen Zipfel der Picardie bis zum Übergang in die Normandie, Dieppe als Endpunkt, hat dazu den Beinamen „Route du Blues“, und beginnt gleich oben auf dem Vexinplateau, kurz nach der Ortsausfahrt von Chars, eine amerikanische Meile und soundso viele russische Werst vor dem Dorf Bouconvillers, wo vor dem Wirtshaus “Cheval Blanc“, am Rand der „Route du Blues“, zur Mittagszeit, ungefähr auf halben Weg zwischen Paris und dem Meer, ein Laster hinter dem anderen parkt.
Und zuletzt blieben wir stehen und äugten in dem einzelnen, anscheinend leeren Quittenbaum an einem der Vexindorfränder nach der einen Frucht, und da war sie, da wölbte sich aus der Laubfläche ein Körper, ein Fruchtkörper, ein einzelner, der einzige.
Ich gratuliere Peter Handke zum Literaturnobelpreis.
Alle Zitate aus: Peter Handke – Die Obstdiebin, Berlin 2017.