Am 7. Oktober 2019 waren die Straßen in Berlin voll mit Polizeiwagen. Ich wusste nicht warum, erfuhr dann aus der „Berliner Zeitung“, dass ein Autokorso zum Gedenken an den blutigen 40. Gründungstag der DDR erinnern sollte. Das war ja kurz vor der Wiedervereinigung. Was um den 32. Jahrestag stattfand, erfuhr ich jetzt aus einem Film, der aus dieser Zeit erzählt, einer Zeit „als es noch Rollerskates gab, als alle Mädchen noch Schamhaare hatten und die Jungs Dauerwellen und Make-up, als jeder noch einen Plattenspieler und Kassettenrekorder besaß, als noch in den Kneipen und im TV geraucht wurde, als es die Hausbesetzer und die RAF gab, die DM, die Mauer, die DDR und Westberlin.“ „Ich war dabei“, sagt Mark Reeder aus Manchester in dem Film Lust and Sound.
Ich auch. Als ich letzte Woche auf dem Mauerweg vom Babelsberger Schloss zur Glieniecker Brücke spazierte, sozusagen auf dem Todesstreifen, entlang der fiktiven Mauer, dachte ich an meine 80 er Jahre hinter dem realen iron curtain. Ich wohnte in Schöneberg, Kreuzberg war aber auch mein Kiez. Dschungel, Risiko, Mitropa waren die Szeneorte und natürlich das SO36, wo man nachts dem Roboter Tanz von Martin Kippenberger zusehen konnte, wo man Eric Burdon, die Toten Hosen oder Christiane F. traf. David Bowie verkehrte in meinem Tortenladen um die Ecke, dem „Anderes Ufer“. Oben in der Goltzstrasse verkauften Gudrun Gut und Blixa Klamotten und Musik im „Eisengrau“. Es wimmelte von Punks und Queers, Berlin bebte. Bowie spielte vor dem Reichstag und schickte so den west sound über die Mauer. Egal, wohin man kam, privat oder in die Kneipen, überall lief Joy Division oder Annette Humpe’s „Ich steh auf Berlin“. Wenn es Einbrüche gab, wie der Tod von Ian, nur ein paar Monate nach dem Auftritt von Joy Division im Kant Kino (Koma Kino), dann litten wir tief, gingen nicht raus, sondern hörten zu hause am Boden liegend Musik von Tangerine Dream, Ashram Temple oder folgten dem depressiven Sprechgesang von Anne Clark. Als der junge Hausbesetzer in der Potsdamer Strasse über fahren wurde und starb, waren wir wie gelähmt. „You need a drug“ war nicht nur musikalisch eine Hilfe. WestBam tröstete. Meistens waren wir gut drauf, Westberlin war wirklich sexy. Gudrun Gut, die Frontfrau von Malaria! sang frei und verführerisch, ihr Freund Blixa Bargeld streunte lasziv durch die Szene. Ostberlin interessierte ihn nicht. Er fand es spannend in einer Stadt zu leben, von der er die andere Hälfte nicht kennt. Ich war immer neugierig auf Ostberlin. Ich fuhr in den 80 ern im Sommer rüber, am Hauptmann von Köpenick vorbei zum Schwimmen im Müggelsee.
Heutzutage zieht es mich nicht nach Berlin Mitte oder Prenzlauer Berg. Ich fahre immer wieder nach Potsdam, die Stadt ist für mich wie ein Tor zur Schönheit: „Achtung, Sie verlassen jetzt Berlin“. Das vollkommen zerstörte Potsdam hat in den letzten 30 Jahren seinen preußischen Glanz aufpoliert. Die Schlösser und Villen waren zum Glück wenig zerstört. Günther Jauch hat in der Villa Kellermann am Heiligen See in Potsdam vor kurzem ein Restaurant eröffnet. Ich besuchte es, auch weil ein echter Andy Warhol (der Alte Fritz) dort hängt.
Bedient wird man dort von jungen Frauen in grauen Arbeitsanzügen. Soll das Retro-Sozialismus sein? Als sich die in diesem Outfit vollkommen unerotisch wirkende Bedienung näherte und mich fragte: „Was darf’s denn sein?“ antwortete ich: „Kaltes, klares Wasser“. (Von Malaria!)