Vor einiger Zeit hatte ich hier in einem Kommentar nebenbei die Frage aufgeworfen, ob Laurie Anderson schon immer Buddhistin war oder erst seit neuerer Zeit. Sie hat, wie ich inzwischen weiß, erste Fühlung bereits in den Siebzigern in den Künstlerkreisen von SoHo aufgenommen, sich dann aber nicht weiter darum gekümmert. Erst in den Neunzigern scheint sie dann ernsthaft in den tibetischen Buddhismus eingestiegen zu sein; offenkundig unter dem Eindruck Lou Reeds, John Cages und Philip Glass‘ (letzterer ist u.a. Mitgründer des buddhistischen Tricycle-Magazins). Ebenfalls in den Neunzigern sprach sie Texte des Dalai Lama für ein Hörbuch.
Und nachdem schon Lauries zurückliegende Alben Heart of a Dog und Landfall recht jenseitig orientiert waren, geht es nun um buchstäblich die letzten Dinge — beziehungsweise die Dinge zwischen Ende und Neuanfang.
Das Projekt Songs from the Bardo ist 2014 live aufgeführt worden und liegt nun als Studioeinspielung vor. Über einen durchgehenden, sich laufend verändernden Klangteppich spricht Laurie Anderson die Unterweisungen des „Bardo Thodol„, auch bekannt als das „Tibetische Totenbuch“. Sie selbst spielt Violine, begleitet wird sie von Tenzin Choegyal (Gesang, Gongs, Lingbu, tibetische Bambusflöte, Dranyen, Klangschalen), Jesse Paris Smith (Klavier, Gongs und Klangschalen), Rubin Kodheli (Cello) und Shahzad Ismaily (Perkussion).
Der Begriff „Bardo“ steht für „Zwischenzustand“ oder „Übergang“. Beschrieben werden im Totenbuch (sehr vereinfacht gesagt) in drei Stadien die physischen und psychischen Ereignisse im Sterbeprozess, im Moment des Todes und des Danach. Eine Reihe von Unterweisungen sollen dem Sterbenden vorgelesen werden, um ihn durch die Tage nach dem Tod zu führen und ihm den Weg durch die Erscheinungen zu weisen, mit denen er zu rechnen und auf die er gegebenenfalls zu reagieren hat: die Wahrnehmung des Klaren Lichts, die karmischen Illusionen, die sich als friedvolle und zornige Gottheiten und als sich aufbauendes Mandala zeigen, und die Ereignisse beim Eintritt ins Nirvana oder eine Wiedergeburt — immer begleitet von dem Hinweis, dass es sich bei allem, was zu sehen oder zu hören ist, um Projektionen des eigenen Geistes handelt. (Es verwundert nicht, dass Timothy Leary diese Teile des Tibetischen Totenbuches vor vielen Jahren einmal in eine Art Reiseführer umgearbeitet hat, der lange Zeit als Raubdruck kursierte.)
Man kann die Songs from the Bardo unmöglich im Hintergrund laufen lassen. Die Platte zieht den Hörer in ihren Bann. Lauries (inzwischen deutlich gealterte) Stimme und ihre hochkonzentrierte Sprechweise zwingen zum Zuhören — auch dann, wenn man vielleicht mit der Thematik des Albums wenig anfangen kann. In letzterem Fall sind die 14 Tracks zumindest eine Reise in eine faszinierende Gedankenwelt. Es ist auch sicher kein Zufall, dass die Platte nicht bei Lauries Hauslabel Nonesuch erschienen ist, sondern bei Smithsonian/Folkways. Das Booklet enthält umfangreiche Texte über das Projekt und die Ausführenden, leider allerdings nicht den von Laurie gesprochenen Text, den man eigentlich gerne mitlesen würde. Man findet den Wortlaut des Totenbuches aber in verschiedenen Übersetzungen im Web.
Alsdann: Awakened One, listen without Distraction.
Hartes Brot, aber es lohnt sich.