Max, Mischa & Die TET-Offensive (Teil 1)
Von Stavanger habe ich bisher wenig gehört; die Hafenstadt war zusammen mit Liverpool europäische Kulturhauptstadt 2008; wunderschön gelegen zwischen Fjorden und Bergen ist die Stadt mit ihren 134000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Norwegens. Hier wächst Max Hansen in den 80er Jahren auf, der Vater SAS-Pilot, die Mutter betreibt einen eigenen Handarbeitsladen. Die Eltern waren in jungen Jahren engagiert im Kampf gegen den Vietnam-Krieg, nicht nur das, sie zählten sich auch zehn Jahre lang zu den Mitgliedern der norwegischen Kommunistischen Arbeiterpartei. Sie träumten von einer ganz anderen Welt. Sohn Max wird mit fünfunddreißig Jahren einmal sagen: „Ich denke oft, dass sie die letzte Generation waren, die glaubte, sie könnte etwas verändern: ich gehöre der ersten Generation an, die verstand, dass wir es nicht konnten.“
Im Alter von acht Jahren findet Max eines Tages eine Kiste mit Erinnerungsstücken aus dieser Zeit: FNL-Abzeichen, eine rote Flagge, die Mao-Bibel uvm. Er befragt seine Eltern zu den Funden, die allerdings haben ihre einstigen Parolen und Ideale längst vergessen. Immerhin erfährt Max zum ersten Mal etwas über den Vietnamkrieg. Ein paar Jahre später wird er zusammen mit Freunden den Film Apocalypse Now sehen, ein sein ganzes Leben prägendes Ereignis. Im Sommer 1988 spielen Max und seine Freunde Krieg – Vietnamkrieg. Zwei Jahre später emigriert die Familie in die USA, die Arbeitsbedingungen seien für den Vater hier in den USA ungleich besser als in Norwegen. Für Max bedeutet die Auswanderung eine Katastrophe, den Verlust der Heimat. Der Umzug nach New York stellt sich für den Jungen als eine totale Entwurzelung dar, er fühlt sich allein, einsam, entortet und schreibt: „Zuhause. Das schönste Wort in meiner Muttersprache. Ich will nachhause und weiß nicht mehr, wo das ist. Das ist die Essenz des Ganzen, eine tiefsitzende Angst davor, kein zuhause mehr zu haben. Ich kenne niemand. Ich habe niemand. Niemand!“ Für Max wird dieser Verlust zum Lebensthema, in der Mitte seines Lebens wird er sagen: „Ich war dabei, mich zu verändern, von jemanden, der sich wünschte nach Hause zurückzukehren, in jemanden, der wünschte, er würde sich wünschen, nach Hause zurückzukehren.“
So beginnt die Lebensgeschichte von Max Hansen, erzählt von dem norwegischen Autor Johan Harstad in dem Roman mit dem Titel Max, Mischa & Die TET-Offensive (VÖ April 2019). Harstad, Jahrgang 1979, kam wie sein Held im Buch in Stavanger zur Welt. Dieser Roman hat, ich sage es besser gleich, 1242 Seiten, aber es lohnt sich sehr, dieses großartige Werk zu lesen.
Der Roman gliedert sich in vier Teile, der erste beginnt und der vierte endet im Jahr 2012, beide erzählt aus der Sicht von Max, der es inzwischen zu einem erfolgreichen Theaterregisseur gebracht hat und gerade mit einer Theatergruppe durch die USA tourt; aufgeführt wird das Stück Better worlds Through Weyland-Yutani. Die beiden zentralen Buchteile zwei (S.131-660) und drei (S.663-1151) erzählen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven das Leben von Max – von den ersten, zunächst sehr schwierigen Jahren im neuen Land, in der Schule, von der Begegnung mit dem jüdischen Mitschüler Mordecai, der sein bester Freund werden sollte und dem Kennenlernen der sieben Jahre älteren Künstlerin Mischa, die über sechzehn Jahre seine Lebensgefährtin werden sollte – und schließlich von seinem Onkel Owen, dem Bruder seines Vaters, der schon in jungen Jahren Norwegen verlassen hat und, weil er keinen anderen Weg gesehen hatte, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten, am Vietnam-Krieg teilnahm, weshalb es zum Bruch mit seiner Familie gekommen war.
Und das sind die wesentlichen Themen, die in diesem Roman verhandelt werden: Auswanderung, das Böse, Gier, Krieg, Heimat, Zeit-Sterben-Tod, Erinnerung, Freundschaft, Homosexualität, Scheidung, Zufall, Musik (das ist ein ganz wichtiges Thema, Musik als Lebensbegleiter, als Soundtrack zum Leben) Kapitalismus, Entmietung (das Apthorp, ein riesiges Gebäude, in dem preiswertes Wohnen wegen der Mitpreisbremse möglich war, wird verkauft, es war über viele Jahre Heimat für Owen, Max und Mischa), Zukunft und vor allem die Frage: Hat Samuel Beckett recht, wenn er sagt: NICHTS ZU MACHEN? Das Thema „Kann der Mensch etwas machen“ zieht sich durch das ganze Buch, und Max scheint in seinem Leben immer wieder erfahren zu haben, dass man nichts machen könne: gegen Auswanderung, gegen Heimatverlust, gegen Krieg und Tod, gegen den Verlust geliebter Menschen usw. Endet das Buch in Resignation oder doch mit der Möglichkeit des Aufstehens, des Aufbruchs?
Bezüglich des Soundtracks zum Buch seien für heute zunächst folgende im Buch erwähnte Titel genannt:
The Doors: „I Can´t See Your Face in My Mind“ / „Summer’s Almost Gone“ / „When the Music’s Over“ / „The End“
Miles Davis: „Bitches Brew“
Ry Cooder: „Paris, Texas“
Crosby, Still, Nash & Young: „Ohio“
Neil Diamond: „Coming to America“
Thelonious Monk Quartet with John Coltrane at Carnegie Hall
Bruce Springsteen: „Born to Run“
Harald Sœverud: „Kjempeviseslåtten (Ballad of Revolt)“
Percey Sledge: „When a Man Loves a Woman“
Duke Ellington: „Take The A-Train“
Simon and Garfunkel: „The Only Living Boy in New York“
Maurice Ravel: „Gaspard de la Nuit“
Sonic Youth: „Hyperstation“
Jane’s Addiction: „No One´s Leaving“
Miles Davis, Hank Jones, Sam Jones & Art Blakey Cannonball Adderley: „Somethin‘ Else“