Als Kind hatte ich einen roten Drachen. Aus transparentem, wasserfestem Papier, das auf einen dünnen selbstgebastelten Holzrahmen aufgezogen war und am längeren Ende eine Schnur mit vielen bunten Papierschleifchen hatte. Und der flog phantastisch, wenn man ihn erst einmal in die Luft bekommen hatte, tanzte wild umher, manchmal unberechenbar und fast heiter, manchmal in beklemmenden Kurven direkt auf den Boden zu, so dass es einiger Geschicklichkeit bedurfte ihn vor dem Absturz zu bewahren und manchmal scheinbar zentrifugal, wobei er mich fast zum Abheben brachte.
Jahre später begegnete mir der rote Drachen wieder. Dieses mal als Blotter Art, wo sich ein verschmitzter Drucker wohl gedacht hatte, dass ein einfacher, klassischer roter Drachen das geeignete Symbol für psychedelisches Abheben sein müsste. Hier bleibt nur anzumerken, dass die Rechnung mehr als aufging und der Tanz zwischen den Welten einer ähnlichen Dynamik folgte wie mein roter Papierdrachen in Kindertagen.
Dieses mal tauchte er in meinem Briefkasten auf und gab vor das Debutalbum eines norwegischen Free & Heavy Prog Jazz-Rock Emsembles zu sein. Nach meinen Vorerfahrungen mit roten Drachen schien eine gehörige Portion Skepsis angezeigt zu sein, was für mich allerdings eher einen Anreiz darstellt als mich abzuschrecken. Also rein in den CD-Player damit und…-.–/////=..//==///..: – los geht’s mit einem Cover von Ptah, The El Daoud. Mit voller Wucht, filigraner Spielfreude und erheblicher Schärfe. Dagegen hört sich das Original von Alice Coltrane an wie ein esoterisches Kinderlied. Und dem fantastischen Basslauf, bei dem die Heavy Metal erprobten Musiker die Schnittstellen zwischen Jazz und Metal gleich exzessiv ausloten. Direkt danach gibts erst einmal im wahrsten Sinne des Wortes ein paar ordentliche Einläufe, wobei der Zweck die Mittel heiligt: 13 Enemas For Good Luck. Spätestens bei dem Manöver wäre mein roter Papierdrachen hinüber gewesen: wild fetzend, rasant wegreissend und in elegantem Bogen abstürzend zugleich!
Das Quartett um den Gitarristen Even Helte Hermansen bringt in einem quasi-alchemistischen Prozess die Elemente von Jazz, Jazz-Rock, Metal und Free-Jazz zum Kochen, um sie dann zu etwas Höherem, Neuen nahtlos zu verschmelzen, wobei in jedem Ton die unbändige Spielfreude der Musiker brachial die auditiven Zentren im Hirn aufbohrt. Elephant9, Shining, Bushman’s Revenge und Grand General waren die Übungsfelder für diesen Stilamalgam, der sich bemerkenswert frisch und organisch zeigt.
Beim dritten Stück Flew A Little Bullfinch Through The Window wird es in fast rührender Weise skurril, psychedelisch und rhythmisch vertrackt zugleich, ohne dass der geneigte Hörer auch nur einen Augenblick eine Chance hätte zu vergessen, wo die Harke hängt. Und wer bei diesem Stück den Schluß verpasst findet sich unversehens in dem Fleischwolf des chaotisch-harmolodischen Heavy-Jazz von Focus On Insanity wieder, wo der Nordsturm all die Folgen der bunten Blotter-Bildchen wild durcheinanderwirbelt und eine Initiation der Intensität einleitet. Da fällt mir doch gleich Der Fliegende Robert von Heinrich Hoffmann ein, den ich wegen seines konsequent-anarchischen Potenzials und seiner kompromisslosen Abenteuerlust schon immer am meisten von den Geschichten Hoffmanns geliebt habe und mich immer schon gefragt habe, warum er ein mahnendes Beispiel sein sollte. Gleich einer Gabelweihe stürzt er sich furchlos in die Cumulus-Wolken und zieht davon:
Wenn der Regen niederbraust,
Wenn der Sturm das Feld durchsaust,
Bleiben Mädchen oder Buben
Hübsch daheim in ihren Stuben.
Robert aber dachte: Nein!
Das muß draußen herrlich sein!
Und im Felde patschet er
Mit dem Regenschirm umher.
Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
Daß der Baum sich niederbeugt!
Seht! Den Schirm erfaßt der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit.
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.
Schirm und Robert fliegen dort
Durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
Stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
Ja, das weiß kein Mensch zu sagen.
You Don’t Know, You Don’t Know. Ich auch nicht. Robert ward nicht mehr gesehen und im letzten Stück wird er wohl friedlich, umgeben von narkotisierenden Wolken der Unwissenheit auf neuem Boden niedergegangen sein. Zurück bleibt das sanguinische Abbild eines hochkomplexen musikalischen Vexierbildes. Durch welche wilden Böen mein roter Drache geflogen ist weiß ich auch nicht mehr zu sagen. Jetzt aber ist er wieder heil am Boden und ich nehme ihn unter der Arm und gehe nach Hause. Ob ich es je wiedererkennen werde?