Manafonistas

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2019 5 Apr

Darle tiempo al tiempo

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags:  | 1 Comment

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, waren alle Uhren verschwunden. Weder in der elterlichen Wohnung noch irgendwo draußen, er hatte beide Fensterflügel weit geöffnet, fand sich die Angabe einer Uhrzeit, auch nicht in der Zeitung, die wie immer zusammengefaltet im Briefkasten lag. Es gab die Uhrzeit nicht mehr. – Wie kämen Sie damit zurecht? Einen Tag lang, eine Woche, einen Monat, zwei. Wie stark würde sich Ihr Leben verändern? In seinem Buch Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen (1997) unterscheidet Robert Levine zwischen Menschen, deren Alltag stark von der Uhrzeit geprägt ist, und solchen, die die Zeit nach gesellschaftlichen Ereignissen messen und in der Ereigniszeit leben. Die Zeit vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Republik war geprägt von einer intensiven Standardisierung, Normalisierung und Normierung der gesamten Gesellschaft. Für uns heutzutage ist die Existenz der Uhrzeit so selbstverständlich, dass wir uns kaum vorstellen können, dass die Standardzeit erst im Jahr 1884 erfunden und gegen hartnäckigen Widerstand von Freigeistern eingeführt wurde. Robert Levine zitiert den Publizisten Charles Warner, der sich mit folgenden Worten gegen die nach einer Uhr gelebten Zeit wendet: „Das Zerhacken der Zeit in starre Perioden ist ein Angriff auf die persönliche Freiheit und läßt keine Unterschiede in Temperament und Wahrnehmung zu.“ Während seines Jahres in Trinidad, erzählte Robert Levine, hatte er gelernt, dass die Menschen eine persönliche Kontrolle über ihre Zeit hatten. Sie kamen oder gingen mehr oder weniger so, wie sie wollten oder sich fühlten. Die Zeit wurde mehr vom Verhalten als von der Uhr bestimmt. Verabredungen in Burundi wurden getroffen mit Bezug auf das Weideverhalten der Kühe (wenn die Kühe zur Weide gehen / wenn sie zum Fluss gehen etc.). Eine dunkle Nacht ist eine Wer-bist-du-Nacht: Man spürt, dass jemand da ist, aber man weiß nicht, wer es ist, und diese Frage ist der Gruß. Das Wohlbefinden eines Menschen hängt stark davon ab, wie das Zeitkonzept der Umgebung mit den eigenen Bedürfnissen harmoniert. Schrieb Robert Levine nicht von einem Paartherapeuten, der die Personen darum bat, das Empfinden der äußeren Zeit mithilfe eines Metronoms einzustellen, und wie aufschlussreich die Unterschiede in den Taktangaben waren? Darle tiempo al tiempo. Der Zeit ihre Zeit zu geben.

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1 Comment

  1. Jochen:

    Als ich das Buch nach Jahren zum zweiten Mal las, war ich erstaunt, wie gut und wie zeitlos es ist. Wissenschaftlich fundiert und erzählerisch spannend. Der Autor Robert Levine ist wohl auch viel rumgekommen.

    Schön, wenn man solche Wertschätzungen teilen kann.


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