Der Tag, an dem Nina Simone beinahe meine Jukebox schrottete und der verbotene Joyce endlich geliefert wurde
Am Morgen holte ich meine alte Schreibmaschine aus dem Keller, spannte einen Bogen Original-Jukebox-Titelschilder ein, tippte oben MY BABY JUST CARES FOR ME ein, in der Mitte NINA SIMONE und unten LOVE ME OR LEAVE ME und überlegte, welche Platte der neuen Simone-Single weichen müsste. Während ich noch nachdachte, erinnerte ich mich an den Herbstflohmarkt, auf dem ich diese Nina-Simone-Single erworben hatte; die Platte sah gut aus, kaum Kratzer, vor allem, wann bekommt man schon mal eine Single von Nina Simone? Fünf Euro wollte der Händler, für 3,50 Euro steckte ich sie ein. Nun also, welche Platte sollte weichen, ich entschied mich für die Animals “The House Of A Rising Sun“, die Scheibe musste ohnehin etwas geschont werden. Nun nahm ich das Titelschildchen der Animals-Scheibe heraus und ersetzte es durch das, welches auf die Nina-Simone-Single hinwies.
Nun hätte ich nur noch die entsprechende Schallplatte austauschen, Geld einwerfen und die Nummer 158 drücken müssen, dann würde MY BABY JUST CARES FOR ME erklingen, doch, was geschah? Ein schreckliches Krachen, Quietschen, Aufheulen war zu vernehmen, ein Blick in das Boxeninnere ließ mich erschaudern: das Laufwerk, auch Schlitten genannt, hatte zwar die richtige Single angesteuert und auch aus dem Plattenständer herausgeholt, doch war es scheinbar nicht möglich, die Platte aufzulegen. Das Antriebswerk drohte sich aus seiner Verankerung herauszuquälen. Kurzerhand zog ich den Netzstecker. Was war passiert? Ich hatte beim Kauf der Single nur auf Kratzer geachtet, nicht auf die sonstige Beschaffenheit der Platte, die war nämlich offenbar so verbogen (siehe Bild), dass sie beinahe mein Laufwerk (Schlitten) geschrottet hätte. Das Unheil war noch abzuwenden, das Laufwerk konnte ich wieder reparieren. Die Nina-Simone-Single war allerdings nur noch etwas für den Restmüll.
Trost kam am Nachmittag in Form eines Schreibens der Stadtbibliothek Reutlingen. Doch der Reihe nach: Am 2. Februar 1922, James Joyce wurde 40 Jahre alt, sollte sein Meisterwerk erscheinen, Ulysses. Joyce hatte einerseits darum gekämpft, den Roman bis zu seinem Geburtstag fertig gedruckt, in seinen Händen halten zu können, konnte aber andererseits letzte Verbesserungswünsche und Zusätze nicht zurückhalten. Die Drucker machten es aber möglich, zwei Exemplare des Ulysses wurden am Morgen des 2. Februar ausgeliefert, sodass Joyce am Geburtstagsabend im Freundeskreis im italienischen Restaurant Ferrari in Paris feiernd, das Päckchen mit dem Buch öffnen – aber erst nach dem Dessert! (es lag die ganze Zeit unter seinem Stuhl) – und herumreichen konnte.
Eine wunderbare deutsche Übersetzung des Ulysses legte der geniale Übersetzer Hans Wollschläger 1975 vor, allerdings: einen fehlerfreien englischen Urtext des Buches gab es damals noch nicht. Eine kritische, synoptische Edition des Romans erschien erst 1984. Unter der Leitung von Hans Walter Gabler hatte man versucht, ein vertrauenswürdiges Original zu rekonstruieren. Auf Grund dieses Textes versuchte nun Harald Beck mit einem Übersetzerteam, dem auch als Mentor Fritz Senn aus Zürich angehörte, eine Überarbeitung der Wollschläger-Übersetzung. Im März 2007 hatte man noch mit Hans Wollschläger über das Vorhaben gesprochen, dann starb er am 19. Mai plötzlich. An der Revision wollte man allerdings festhalten, rund 5000 Änderungen und Korrekturen wurden vorgenommen, 2017 konnte man dem Suhrkamp-Verlag das Vorhaben als abgeschlossen vermelden.
Dann der Rückschlag: Gabriele Gordon, Inhaberin der Rechte an der Übersetzung Hans Wollschlägers, verhinderte das Erscheinen der revidierten Ausgabe, der „Kunstwerk-Charakter“ der Wollschläger-Übersetzung würde so nicht nur beeinträchtigt, sondern zerstört. „Nur Hans Wollschläger selbst hätte seine eigene geniale Übersetzung überarbeiten können. Niemand sonst.“ Von diesem Rechtsstreit las ich im Januar 2018 zum ersten Mal; bis zum Sommer vergangenen Jahres war dann klar, das Buch würde nie erscheinen. Am Ende erlaubte die Rechte-Inhaberin den Druck von 200 Exemplaren, die ausschließlich an Bibliotheken in aller Welt ausgegeben werden dürften, aber eben unverkäuflich seien.
Als Liebhaber dieses Buches war ich natürlich zutiefst unglücklich über die vergeblichen Verhandlungen zwischen Verlag und Rechte-Inhabern, setzte nun aber alles daran, eines dieser 200 Bücher wenigstens ausleihen zu dürfen. Bei einigen Bibliotheken habe ich es versucht, vergeblich, dann schließlich, zwei Tage vor dem Geburtstag von Joyce, am 31.1.19, erhielt ich die Nachricht, dass die Universitätsbibliothek Hannover (ausgerechnet, das musste so kommen) mir für vier Wochen ein Exemplar der revidierten Ausgabe ausleihen würde. Unermessliche Freude!