Beim Betreten des kuppelförmigen Konzerthauses war bald im Hintergrund ein monotoner Subbassrhythmus zu vernehmen, der sich – nicht laut – aber beharrlich über eine Stunde ins Bewusstsein hämmerte und irgendwann unabweisbare Assozitionen zu dem großen Erdbeben- und Vulkanausbruchsimulator in Lanzarote aufkommen ließ. Ich empfehle immer gerne einen Besuch dort, weil sich dort herbe Naturkatastrophen bequem und effektreich in den Vergnügungstempel einfügen und für ein unvergessliches Erlebnis sorgen. Unter der Kuppel des Saales hingegen änderte sich nun etwas: es kam Musik. Erst beim dritten Hinhören erkannte ich einige 20 Jahre alte Top-Charthits, von Robbie Willams, Britney Spears, Aerosmith, Madonna, Cher und viele mehr, die zur Einstimmung auf das Bevorstehende einfach um des gesamten Frequenzbereichs oberhalb von ca. 2000 Hertz beraubt worden waren und so die Basstrukturen vor sich hinwummerten. Düster und grob entstellt. Ein Testfall für den Hörgeräteakustiker.
Grelles Gegenlicht. Die Musiker betreten die Bühne, keine Vorgruppe. Sie wäre ohnehin chancenlos gegen das gewesen, was nun kommt. Massive Attack, die von der ersten Sekunde an ihrem Namen mehr als alle Ehre machen. Der Subbass wird lauter, fängt an bei einem Velvet Underground-Cover genüßlich mit den Gedärmen zu spielen, während die restliche Musik und die hochkomplexe visuelle Installation wie ein Kunsttsunami von der Bühne über uns hinwegfegt. Mit grenzenloser Intensität und ungeheurer Wucht. Keine Kompromisse, keine Pause, kein Aufatmen dazwischen. Die Schallwand verschluckt uns mit einem Biss, jagt uns durch ein Universum von Bildern, die Zitate, Untermalung, politisches Statement oder quälende Konfrontation mit dem Schatten medialer Idiotie zugleich sind. Immer wieder werden Texte, teils auch in Deutsch eingestreut, die kryptische Aussagen verbreiten. Außerhalb des Vergnügungstempels geht der Krieg weiter. In der 2D-Welt leben die Toten weiter und lassen uns nicht los (wozu Ausschnitte aus Filmen mit längst Verstorbenen laufen oder auch mal im Nachtsichtmodus gefilmte reale Todesfälle). Wir leben in einer Dauerschleife. Lasst sie uns beenden und beginnen unsere Zukunft zu gestalten. Zwischendurch nette Accessoirs aus der Filmbranche z.B. Monstermasken im Großformat, Bilder aus dem Syrienkrieg und bizarre Sequenzen mit Putin und Trump. Was bei diesem Gesamtkunstwerk im Vordergrund steht lässt sich kaum sagen, weil jeder Welle sofort die nächste folgt. Es ist der 20. Geburtstag von Mezzanine und so werden nur die Songs von diesem Album gespielt und alle sind dabei, sogar Horace Andy und zum ersten mal seit Jahren wieder auf der Bühne die unübertreffliche Elizabeth Fraser, deren Gesangsparts nicht nur bei „Teardrop“ für höchsten Chill-Factor sorgen. Aber Massive Attack wären nicht, was sie sind, wenn sie nicht zwischendurch zitieren und covern würden. Wobei Covern hier heißt die Stücke in das akustische Gesamtgefüge mit nachdrücklichster Betonung des unteren Frequenzspektrums nahtlos einzufügen. The Cure, Ultravox, Bauhaus und nicht zuletzt den guten alten Pete Seeger, der schlichtweg in sein absolutes akustisches Gegenteil verkehrt, basslastigstens unerkennbar bleibt. Aber mit vollster Wucht von der ersten bis zur letzten Minute, konfrontativ und unausweichlich. Ein nicht verhandelbares Statement, künstlerisch komplex und vielschichtig, aber in der Haltung freundlich, tolerant, weltoffen und multikulturell. Volle Dröhnung, kompromisslos, konsequent. Noch nie eine so harte Performance gesehen, ohne dass mir die Ohren danach nicht gepfiffen hätten. Massive Attack. There are no enemies anywhere. I Will Love.