Das literarische Vermögen, über einfache Alltagsangelegenheiten auf interessante Weise zu schreiben, schätze ich sehr. Desweiteren auch die Fähigkeit, die negativen Aspekte des Lebens herauszustellen: die Schwierigkeit des Seins zu schildern, vom Nachteil des Geborenseins zu reden, das Unbehagen an der Kultur nicht vorschnell untergraben, das Falsche im wahren Leben zu entlarven, den Schimmelpilz mit Namen Menschheit zu verachten, die Ausbeutung der Natur anprangern, die Missachtung des Tierwohls anklagen, den Riss zwischen Trieb und Vernunft zu beachten. Kurzum: den Kritiker und Skeptiker in uns zu pflegen. Dies war einst starker Impuls hinsichtlich der Neugier an einer Philosophie, die sich als erbaulicher Schulstoff wenig eignet. Bei Schopenhauer und Cioran liess es sich finden oder dem wenig bekannten, einst sehr geschätzten Soziologen Dietmar Kamper. Der kürzlich verstorbene Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino war auch hilfreich. Witzig, präzise beobachtend, dabei besänftigend öffnete er Räume. The doors of perception. Die Schriftstellerin Sibylle Berg, ein schärferes Kaliber: schonungslos, als radikal gegenspirituelle Randfrau unverzichtbar. The lady is a punk. In Tuchfühlung bleiben mit den Dunkelwelten, nicht nur die wohlgefärbten Erinnerungen pflegen. Der Wiederkehr des Verdrängten Vorschub leisten, indem man gar nicht erst verdrängt. Permanentes Hintergrundgrummeln, so nannte es ein Malerfreund, dessen witzig provokante Bilder für mich immer ein Stück Heimat waren. Momentaufnahmen des Abgrunds, die Blumen des Bösen, Paraden der Peinlichkeit, die Sprache des Unbewussten. Sehe ich so manches Foto von mir aus der Jugend, graust es mich: „Das war ich? Nichts wie weg!“ Glücklich sind jene, die sich selbst toll finden. Genazino und der genannte Dietmar Kamper zählen zu denen, die halfen, unbehagliche Selbst- und Weltfremdheiten auszuloten: der eine bot den „Regenschirm für diesen Tag“, der andere würdigte die Einbildungskraft und verteidigte das Körperliche (Kamper war einst Sportler) gegen vorschnelle und vorlaute Vergeistigungen. Er sagte es einst treffend: „Das Leben lebt nicht, man muss ihm helfen – das nannte man früher Magie.“ Zum Abschluss dieser rückschauenden Reflexion ein Satz aus dem Buch Gedanken ohne Denker, das auch vom Buddhismus handelt. Sein Autor lässt eine Klientin zum Ende ihrer Psychoanalyse hin sagen: „Gott gibt es nicht und die Familie gibt es auch nicht.“
2019 17 Jan
Verweilen am Negativen
von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags: Dietmar Kamper, Gedanken ohne Denker, Philosophica | 6 Comments
6 Comments
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alex:
Das hört sich sehr interessant an. Mit Genazino bin ich allerdings nie so richtig warm geworden, das war doch oft sehr kleinteilig, bieder und manchmal etwas läppisch.
Sibylle Berg hat anfangs in der Zeit die richtigen Fragen gestellt, hat sich aber in den letzten Jahren eher in die Richtung enfant terrible à la Houellebecq entwickelt, das finde ich schwierig.
Dietmar Kamper scheint so gut wie vergessen, ich erinnere mich vage an Die Wiederkehr des Körpers von 1982, was wäre denn ein Text von ihm, mit dem man anfangen könnte?
Danke an Alle für dieses wunderbare Blog, es ist in den letzten Monaten mein Lieblingsweblog geworden.
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ijb:
Sybille Berg hat eine sehr lesens- (und vor allem diskussions-)werte Gesprächsreihe bei „republik.ch“, wo sie im letzten Jahr jeden Monat ein Gespräch unter der Überschrift „Nerds retten die Welt“ veröffentlicht hat …
[Ich habe einige der Gespräche übersetzt (die dann von Frau Berg noch einmal redigiert wurden).] Auch ihre Theaterstücke sind wohl nach wie vor sehr gut und sehenswert (ein Freund von mir übersetzt die alle ins Englische); ich habe die aber selbst nicht gesehen.
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ijb:
Hier noch eine andere Episode der Gesprächsreihe, zum Thema Drogen mit dem Neurobiologen Iddo Magen am Weizmann-Institut in Israel mit den Fachgebieten Molekular-Genetik, Neurologie und Biochemie, ebenfalls sehr lesenswert:
Folge 10 – Gespräch mit dem Neurobiologen Iddo Magen am Weizmann-Institut in Israel mit den Fachgebieten Molekular-Genetik, Neurologie und Biochemie.
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Jochen:
@ alex
Es gab eine Zeit, da war Genazino „Neuland“ – da fand ich ihn richtig gut.
Kamper lese ich heute eher selten. Aber Bücher wie Von Wegen, Abgang vom Kreuz und Hieroglyphen der Zeit waren einst Kult und behalten ihren Ehrenplatz im Regal.
Man muss auch sagen, dass er ein „Netzwerk“ bildete mit befreundeten Philosophen wie Jean Baudrillard, dem Düsseldorfer Rudolf Heinz etc – Sloterdijk würdigte ihn als einen der feinsinnigsten Zeitgenossen. Er war mal unter den Gästen in Volker Panzers „Nachtstudio“ im ZDF und sprengte dort den Rahmen. Viel zu früh gestorben.
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Lajla:
Jochen, Genazino und Kamper sind glorreiche Halunken des Glücks.
Genazino gelingt literarisch, was im Leben oft misslingt. Von Dietmar Kamper empfehle ich den Essay über „Bildterror“. Ich besitze eine Kopie des Textes. Ich weiß nicht, ob solche Juwelen im Netz zu finden sind.
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Martina:
Vielen Dank an alex für die wertschätzenden Worte für unseren Blog.