Obwohl ihre Schulzeit schon lange zurückliegt, erzählt E. mir immer wieder begeistert von ihrem Deutschlehrer, der mit einigen ihrer Klassenkameraden und –innen eine Art Poesie-AG oder Lyrikclub gebildet hatte, in dem sie sich gegenseitig Gedichte vorlasen und selbst welche schrieben, wobei E. wohl die einzige ist, die weiterschrieb. Vielleicht war der Lehrer, inzwischen 70 Jahre alt, ein Dead Poets Society Fan. Ich erblickte S. auf der Empore der Unibibliothek in Freiburg, wo er allein an einem Tisch saß und so hinreißend aussah, dass ich dachte, wow, den will ich kennenlernen. Ich verwickelte ihn in ein Gespräch, das ich mit der Frage nach den Öffnungszeiten der Post begann (immer noch ein running gag zwischen uns) und als wir begannen, einander unser Leben zu erzählen, war es der Griechischlehrer mit seiner zersetzenden gesellschaftskritischen Haltung, die S. völlig in seinen Bann gezogen hatte, und seine Augen leuchteten immer noch. Und obwohl ich schon immer zur Bewunderung faszinierender Fähigkeiten und Lebenshaltungen neigte, hatte ich nie einen Faible für einen meiner Lehrer. Ganz abgesehen vom Altersunterschied (da bin ich rational) gab es für mich einfach nichts zu bewundern. Sie waren alle klug und hochintelligent und forderten unseren Geist aufs extremste, aber niemand traf mich mit seiner Persönlichkeit ins Herz. Sie waren mir zu normal und schienen uns, bei aller Kritikfähigkeit, auf ein Leben als funktionierende Menschen vorzubereiten. Jeder kennt aus seiner Schulzeit die Beschäftigung mit den Schulsystemen verschiedener Staaten, vor allem Großbritanniens und den USA. In einem Aufsatz zum Vergleich schrieb ich, ich fände das Ganztagsschulsystem nicht gut, denn auf diese Weise würde der Kultusminister Großbritanniens die Freizeit der Kinder verplanen. Die Referendarin, die meine Arbeit mit einem roten Füller korrigierte, bat mich zum persönlichen Gespräch zu meiner Ansicht, wobei ich nicht wüsste, was es da aus Sicht einer Schülerin, die, wenn sie schon früh aufstehen muss, wenigstens ihre Nachmittage und Abende frei planen will, zu diskutieren gibt. In der Oberstufe lasen wir im Herrmann Hesses Steppenwolf, was wohl zu unserer revolutionärsten Lektüre im Deutschunterricht zählte, und die Lehrerin schien erstaunt, dass sich fast die ganze Klasse mit der Hauptfigur identifizierte. Lieber ein Künstler als ein Bürger zu sein. Von seinem Äußeren stach der Mathelehrer aus dem Pulk der braven Anzugträger heraus, er hatte lange Haare, trug einen ungepflegten Bart, Schlabberjeans, XL-Strickpulli und Birkenstocks mit selbst gestrickten Socken, und das in einer Zeit, als Birkenstock nicht hip war, sondern – zumal in dieser Schule – ein Zeichen. Und auch wenn ich in Mathematik immer besser war als in Deutsch, wäre ich nie auf die Idee gekommen, für ihn Gefühle zu haben. Einzig den Englischlehrer in der Oberstufe fand ich irgendwie interessant. Wir lasen Orwells „1984“ und verglichen die Zukunftsvisionen von Orwell und Huxley, wir lasen das grandiose Theaterstück „Krapp´s last tape“ (Das letzte Band) von Beckett, William Goldings „Lord of the Flies“ und einiges mehr, was ich weitaus faszinierender fand als den Faust. Meine Liebe zur englischen Sprache hatte ich bereits entdeckt. Der Lehrer fuhr einen abgefuckten dunkelroten Passat, er hatte neben seiner Begeisterung für Beckett etwas sehr Verzagtes an sich, als hätte er einmal eine große Hoffnung gehabt, die ihm entschwunden war. In den letzten Schulwochen lud er uns einmal zu sich nach Hause ein, er wohnte auf dem Land und hatte einen großen Garten, in dem Schafe herumliefen. Es gab einen Teich, und einmal tauchte kurz sein Sohn an der Terrassentür auf, der Punker war, und es war H, der mir später sagte, das Auftauchen seines Sohnes sei dem Lehrer vor uns unangenehm gewesen. Es wurde dunkel und ganz ohne SMS verabredete ich mich mit einem Jungen meiner Klasse in einem abgelegenen Teil des Gartens. Wer jetzt denkt, hier hätte eine glückliche Liebesgeschichte begonnen, liegt daneben.
2018 19 Dez
Die Magie einer Berufsgruppe mit potenziell lebenslangem Einfluss
von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 8 Comments
8 Comments
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Gregor:
Ausgehend von deiner Überschrift und dem, was du, liebe Martina, schreibst, möchte ich als Kommentar von meinem Deutschlehrer erzählen:
Oberstudienrat S war von 1970 bis 1973 mein Deutschlehrer. Er war damals knapp über 50 Jahre alt, immer korrekt gekleidet, stets im Anzug, weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und natürlich Schlips. Sein Unterricht war anspruchsvoll, er war immer bestens vorbereitet und litt sichtlich, wenn er das Ziel seiner Stunde nicht erreichen konnte, er sagte dann gerne „mir geht die Stunde in die Binsen.“
Er war von den Inhalten seines Unterrichts begeistert, er liebte, was er uns beibrachte und stöhnte laut, wenn seine Schüler ihm nicht folgen konnten oder wollten. Ungewöhnlich war, was wir bei ihm lasen: wir hatten zu jeder Stunde die „Versäumten Lektionen“ mitzubringen, der Entwurf eines Lesebuches, wie es im Untertitel heißt.
Darin fanden wir Erzählungen von Lessing, Börne, Heine bis hin zu Kurt Marti, Helmuth Heißenbüttel oder Günter Wallraff. Zwischendurch im Unterricht eine Erzählung, ein Essay, eine Abhandlung durchzunehmen, damit mussten wir immer rechnen. Dann wurden natürlich auch ganze Bücher gelesen und zwar gründlich z.B. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, Goethe: Wahlverwandtschaften und eben Peter Handke: Kaspar.
Das war für mich der Knüller, wie man damals sagte, ich war vollkommen begeistert. Ab diesem Zeitpunkt sollte mich Peter Handke mein Leben lang beschäftigen. Zu danken habe ich diese Bekanntschaft meinem Deutschlehrer, der sich traute, vollkommen Neues mit uns Schülern zu lesen und vor allem uns etwas zuzutrauen.
Immer wieder wollte ich mich bei Herrn S für seinen wunderbaren Deutschunterricht bedanken und ihm erzählen, dass ich ohne ihn wahrscheinlich nicht Germanistik studiert hätte, nicht die zahllosen einsamen Handke-Lese-Samstage in der Bibliothek des Neuphilologicums in Tübingen erlebt hätte und vieles mehr. Leider schob ich mein Dankesvorhaben auf die lange Bank. Als ich ihn eines Tages endlich anrief, war es zu spät, seine Frau sagte mir, ihr Mann sei vor kurzen gestorben, am 14.05.2005.
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Michael Engelbrecht:
Feine Geschichte, Martina.
150 in dem Stil, und zunehmend surrealer werden lassen, und schon wärs ein tolles Buch über die Trickkiste der Erinnerung, die immer auch Erfindung ist.
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Martina Weber:
Was wäre das Leben ohne diese prägenden Begegnungen. Und das Seltsame an der Erinnerung ist, dass sie nicht starr ist, sondern sich verändern kann, wenn die anderen ihre Sicht der Dinge erzählen. Campfire stories.
Die Trickkiste der Erinnerung ist zwar eine tolle Idee für einen roten Faden für ein Buch mit kleinen Texten. Habe aber nicht vor, das zu schreiben. Dieser Text ist sowieso zu privat und literarisch nicht wirklich interessant.
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Jochen:
Die Fächer Deutsch, Kunst und Musik scheinen mir eher für progressivere Lerninhalte offen zu sein. Was Gregor der Deutschuntericht bedeutete, das war für mich der Kunstunterricht.
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Michael Engelbrecht:
Eine Person, die von Beruf und Berufung aus schreibt, ist nicht immer die beste Option, das Geschriebene zu beurteilen. Und natürlich habe ich es nicht ernsthaft gemeint, du solltest das von mir fantasierte Buch schreiben. Es ändert aber nichts daran, dass aus meiner sicher nicht bescheidenen Sicht der Dinge dieser Text a) nicht zu privat ist und b) literarische Qualität hat. Die Vorlage ist steil: DIE TRICKKISTE DER ERINNERUNGEN wäre ein superspannendes Buch, wenn es in aller wahrhaftigen Beiläufigkeit begänne, und zusehends surrealer würde, in, sagen wir mal, 175 kurzen Kapiteln, und nicht linearem Erzählgefüge. Ist aber nur eine Idee, Ideen fliegen ständig durch den Raum, und vielleicht schnappt jemand zu und macht es. Sonst endet es wie das BUCH DER MANAFONISTEN😂😅🤣🍷🎩🌲
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Michael Engelbrecht:
Aus der Reihe „unvergessliche Lehrer“, deren Einfluss bis heute nachhallt, hatte ich im grossen und ganzen nur einen: Dr. Egon Werlich. An dem haben sich alle aus unserer alten Klasse „abgearbeitet“, so oder so oder so. Die Wahrnehmungen der Beteiligten driften bis heute auseinander. Der grösste Vollidiot aus der OIc sah sich bei einem legendären Klassentreffen bemüssigt, eine „alte Rechnung“ zu begleichen. Als unser Klassenlehrer schon Ende 70 war, ein knappes Jahr cor seinem Tod Es war ein unfassbar erbärmlicher Auftritt. Sehr schön, dass an jenem Abend dann auch der eine oder andere die Partei von „Egon“ ergriff, und zu denen zählte ich ganz gewiss.
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Martina Weber:
Oh, so schnell sind aus den 150 schon 175 Kapitel geworden ;)
Einstweilen bin ich hier noch an einem laufenden Projekt, tatsächlich mit einigen surrealen Elementen.
Sei es durch Bewunderung oder durch Abgrenzung: Da man sich Lehrern so wenig wie den Eltern entziehen kann, entwickeln wir eine Haltung.
Tatsächlich genoss der Kunstlehrer auch an unserer Schule eine gewisse Narrenfreiheit. Während es in allen anderen Fächern sehr auf Exaktheit ankam, bekam ich schon in der Unterstufe des Gymnasiums den Eindruck, dass man bei einem Bild für den Kunstunterricht auf eine coole Art herumschludern kann. Es muss am Ende einfach nur gut aussehen.
Gregors Geschichte mit dem Deutschlehrer hat mich sehr berührt.
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Jan Reetze:
Beneidenswert, was ihr für Lehrer hattet. Solche sind mir leider nie begegnet. Die meisten erinnere ich nicht mal mehr namentlich.