Manafonistas

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2018 23 Nov

Nur mit dem Kompass in der Hand, und ungeschützt

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 3 Comments

Auf falk.de klicke ich auf den Routenplaner, ich tippe bei A) ein: München, und bei B) Paris. Dann klicke ich das Symbol für „zu Fuß“ an. Es sind 774 Kilometer. Die Reisedauer beträgt 6 Tage, 15 Stunden und 50 Minuten. Es sind also rund 160 Stunden Fußweg und dabei wird, ich rechnete es mit dem Taschenrechner aus, eine zurückzulegende Strecke von 4,8375 km pro Stunde angenommen. Ich klicke auf die Details zur Route, und wie erwartet erhalte ich genaue Informationen, mit Minuten- und Streckenangaben, Ortsnamen, Straßennamen und Himmelsrichtungen. Mit einem Smartphone (und einer Powerbox zur Stromversorgung) wird das Abenteuer berechenbar. Exakt heute vor 44 Jahren brach Werner Herzog von München nach Paris auf, zu Fuß. Er trug einen Anorak, neue Stiefel, einen Matchsack und den Kompass, den er bei den Dreharbeiten zu seinem Film Fata Morgana in der Sahara dabeihatte. Die Landkarte München konnte er nur zwei Tage lang verwenden, dann ging er einfach immer Richtung Westen, möglichst eine gerade Linie. München und Paris liegen auf dem gleichen Breitengrad, dem achtundvierzigsten. Die Reise hatte ein spirituelles Ziel. Lotte Eisner, Filmhistorikerin, Filmkritikerin und Mentorin junger deutscher Filmemacher in den 60er Jahren, war damals 78 Jahre alt und schwer erkrankt und Herzog war davon überzeugt: Wenn er den Weg nach Paris schaffen würde, wäre sie noch am Leben. Werner Herzog wanderte querfeldein, Erdbrocken klebten schwer an seinen Sohlen, meist schlief er in leerstehenden Behausungen, deren Türen er aufbrach, er trank aus Bächen, litt  Hunger und Durst, seine Füße schmerzten, er hatte weder Taschenlampe noch Heftpflaster dabei, da war der Niesel, der Schnee, ständig Regen, es gab Krähen, Kraniche, überall Mäuse und einmal einen irre gewordener Fasan, und oft liefen Menschen vor dem Wanderer, der bald nicht mehr wusste, wie er denn aussah, davon. Einmal schrieb er, der Gedanke ans Skispringen gäbe ihm Kraft zum Weitergehen und ich erinnerte mich an die Dokumentation über den Bildschnitzer und Skispringer Steiner auf der DVD mit dem Film Fata Morgana. Sehr stark sind die surrealen Passagen, in denen Herzog die Kontrolle über den Text völlig aufzugeben scheint und die Vielschichtigkeit einer Landschaft spürbar wird, deren Geschichte immer noch präsent sind, wenn man nur innehält und schaut und hinhört. An jedem Tag seiner Wanderung schrieb Herzog einige Seiten in ein Notizbuch, das vier Jahre später unter dem Titel „Vom Gehen im Eis. München – Paris 23.11. bis 14.12.1974“ publiziert wurde. Starke Details und Bilder, poetisch geschrieben, existenziell. Ein tief beeindruckendes Dokument einer Landschaftserfahrung und einer Grenzerfahrung der Einsamkeit, der Verzweiflung und Hoffnung.

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3 Comments

  1. uwe Meilchen:

    Danke für das Erinnern an dieses Gehen im Eis. Und auch daran was Menschen zustande bringen, im Guten, wenn es ihnen existentiell wichtig ist, hier das zu Fuss gehen über eine kaum vorstellbare Strecke, zu Fuss. Grenzen wahrnehmen, diese überschreiten.

  2. Jan:

    Martje Grohmann, Herzogs damalige significant other, hat eine sehr liebevolle Biografie über die Eisnerin geschrieben: “Ich hatte einst ein schönes Vaterland”. Gebraucht wahrscheinlich noch zu finden.

  3. ijb:

    Ein aktuelles Interview mit Werner Herzog, das auch kurz darauf zu sprechen kommt: https://www.filmdienst.de/artikel/14605/werner-herzog


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