Zur falschen Zeit am richtigen Ort
Es gibt Momente im Leben, da wächst selbiges über sich hinaus und erreicht eine Größe, die sich weder cineastisch noch in Worten angemessen wiedergeben lässt. Aber von vorne: ja, ich bin ein Freund der Freikörperkultur, aber vor allem, weil ich nie begriffen habe (und es mir nie jemand begreiflich machen konnte) warum der Mensch beim Sonnenbaden sich mit gewisses Acessoires an den primären Geschlechtsmerkmalen bedeckt halten sollte. Schnell fallen mir da moralinsaure Scheinargumente kleinbürgerlicher oder konfessioneller Prägung ein, die nur dann Sinn ergeben, wenn ich den Menschen in seinen zwischenmenschlichen Grundreaktionsmustern auf die Stufe von Primaten, insbesondere den diesbezüglich gern erwähnten Bonobo-Schimpansen, stelle. Früh erkannte bereits um 1900 die Naturistenbewegung die damit verbundenen Denkirrtümer und proklamierte die uneingeschränkte Freude am Sonnenlicht. Das Ergebnis erwies sich schnell als moralisch unproblematisch und unterschied sich nicht wesentlich von dem, was sich heute dem geübten Auge beispielsweise an einem Nacktbadestrand zeigt. Denn die Schwierigkeiten liegen wo ganz anders.
Bereits beim Betreten der kleinen Bucht (lassen wir zum Schutze der Persönlichkeitsrechte mal Zeit und Ort aussen vor) findet sich das inzwischen nicht unübliche Bild eines typischen Strandes: eine Reihe Sonnenschirme flankiert von zwei gebührenpflichtigen Sonnenliegen, die allesamt um die Uhrzeit, zu der ich es bis dahin geschafft habe bereits mit Senioren belegt sind, die sich in den fragwürdigsten Körperhaltungen ihren klassischen Urlaubs-1000-Seiten-Romanen widmen. Halt die Bestsellerliste von oben, Varietät gering. Da guckt kaum einer zur Seite, weil das Kopfdrehen altersbedingt schwierig geworden ist oder weil es sich vielleicht auch nur begrenzt lohnt. Am Wasser angekommen spülen die Wellen gerade drei knusprig braune Walroßkörper an den Strand, denen es offensichtlich schwerfallen würde ohne die Hilfe des Wasserauftriebs wieder an Land zu kommen. Dort liegen sie nun, bestgenährt und bewegen ihre Flossenärmchen, um weiter ans Land zu kommen, oft bis sich ein wohlwollender Partner erbarmt und den Landgang vollenden hilft. Daneben spielen zwei grauhaarige Herren mit Schirmmütze und Designersonnenbrille ausgiebig so eine Art Strand-Ping-Pong mit erstaunlicher Ausdauer und Trefferquote bei doch deutlich erkennbaren motorischen Einschränkungen. Irgendwie scheine ich also hier den Altersdurchschnitt bedeutsam zu senken, um nicht alsbald herauszufinden, dass den Menschen etwas ganz anderes Wesentliches vom Primaten unterscheidet: nämlich die Möglichkeit seiner Unverkennbarkeit altersunabhängig mittels eines oder mehrerer gut gewählter Tattoos tiefenwirksam Ausdruck zu verleihen. Ja gut, Arschgeweihe und exotische Schriftzeilen sind offenkundig nicht mehr in Mode, das geht komplexer. Nennen wir den älteren Herren mit dem Watschelgang mal aufgrund seiner szenischen Tattoos „King George II“ (Name von der Redaktion geändert), der die landschaftliche Expressivität seines Körpers noch mit ausgiebigen Genitalpiercings derart geboostert hat, so dass sein Nahen wie tausend kleine Glöckchen erklingt und es im Bereich seines Zeugungsorgans funkelt, wie einst in Aladins Höhle. Nach einem ausgiebigen Bad wird mir bei einem etwas ausführlicheren Blick in die Runde schnell klar, dass das Thema „Genitalrasur in Senium“ längst in den Boulevardblättern des dritten Lebensalters angekommen seien muss. Direkt neben mir trägt ein älteres Paar seine obligaten Ehestreitigkeiten recht routiniert und emotionslos aus, mehr ein formaler Schlagabtausch als ein echter Anlass zum Ärger. Eigentlich wollte ich doch nur etwas frische Luft an meinen Körper lassen und nun befinde ich mich inmitten eines Panoptikums, für das man woanders ordentlich Eintritt zahlen müsste. Dafür aber sicher auch eine qualifizierte Führung erwarten dürfte.