Vor etlichen Tagen bekam ich eine Nachricht hier, bei den Kommentaren: „Vielleicht bist du mein alter Freund Michael Engelbrecht aus Dortmund (Notweg)? Ich lebe nicht in Europa. How could we get in touch? Sylvia.“ Ihre knappen Zeilen fanden sich im Echoraum eines Textes über frühe Kinoerlebnisse, insbesondere ging es um mein erstes und bislang einziges Anschauen des Films „Fata Morgana“ von Werner Herzog – ich antwortete zügig, fügte noch die eine und andere Anmerkung dazu, löschte sie wieder, weil sie zu direkt waren, zu anspielungsreich. Meine Emailadresse hat sie nun, eine Antwort kam nicht. Das alles liess meine Erinnerungen, die stets auch ein Stückweit Fantasien sind, auf Hochtouren laufen, zumal ich mir gar nicht klar war, um welche Sylvia es sich handelt. Es war sicher kein erfundener Name, dazu war die Ortsangabe zu konkret („Notweg“), alles deutete auf die Teenagerjahre, denn später war diese Strasse nicht mehr mit meiner Geschichte verbunden. Wer ist sie? Eine weitere Fata Morgana?
Als erstes kam mir eine Sylvia aus dem alten Kirchhörder Geldadel in den Sinn. Sie hatte einen Bruder, der obsessiv „Lola“ von den Kinks als Single kreisen liess, und wohnte in einem grossen alten Haus im Dortmunder Süden. Wie wir uns kennenlernten, weiss ich nicht mehr genau, wahrscheinlich tauchte sie öfter im Jugendzentrum der Patroklus-Gemeinde auf, in dem wir bei schummrigem Licht Platten auflegten, Bier, Wein und Sprudel tranken. Seltsamerweise weiss ich noch genau, wie ich an einem Abend Don Sugarcane Harris‘ Album „Fiddler On The Rock“ auflegte, mit einer entfesselten Version des Geigers von „Eleanor Rigby“. Ein- oder zweimal war ich auch in dem Haus von Sylvia. In meiner Erinnerung ist sie ein warmherziger, offener, intelligenter Mensch, nicht die Spur arrogant, aber wir kamen uns nie sehr nahe. Weder trafen wir uns abseits der jeweiligen Cliquen, noch hatten wir irgendwas miteinander.
Dann gab es eine zweite Sylvia, vor Gericht beschwören würde ich nicht, dass sie Sylvia hiess und heisst, aber ich glaube schon. Eine sehr flüchtige Zeit. Ich war entweder halb verbandelt mit einer Ulrike U., oder notorisch liebesunglücklich, jedenfalls hatte ich keine besonderen Empfangsantennen für Sylvia 2, die mir sehr zugetan war. Sie hatte blondes Haar, klare, blaue Augen (wie kann ich mich an das Blau erinnern, wo ich doch nie in ihrem Blick versunken bin?), und sie klingelte einmal an der Tür am Notweg 11. (Sylvia 1 war meines Wissens nie bei mir daheim.) Hatte ich da keine Zeit, oder sind wir einen Kaffee trinken gefahren, ich weiss es nicht mehr. Der Vater von Sylvia 2 war, glaube ich, Rechtsanwalt, und sein Chauffeur fuhr sie an jenem Tag bei mir vorbei, sie kam spontan, es war ein feiner Annäherungsversuch, für den sie viel Mut gesammelt haben muss. Habe ich ihr an der Tür gesagt, dass ich leider keine Zeit habe? Ein anderes Mal besuchte sie mich (ich kreise das Datum ein) im April oder Mai 1974 in Münster, schellte dort, an einem sehr sonnigen Tag, wo ich eine Studentenbude hatte, und Damenbesuch am Abend untersagt war. Was wir genau unternommen haben, weiss ich nicht, aber wir haben nie miteinander geschlafen, und auch gross geküsst haben wir uns wohl eher nicht. Vielleicht einmal. Umso wehmütiger im Rückblick, denn sie war unglaublich herzenswarm, und sie sah klasse aus. As days roll by.
Wer war nun die Sylvia, die sich bei mir vor kurzem meldete, und mir, womöglich aus den USA, eine Nachricht zukommen liess? Je mehr ich darüber nachsinne, desto unsicherer werde ich. Die Bezeichnung „mein alter Freund“ ist eine sehr freundliche Umschreibung, aber wird keiner meiner Beziehungen zu Sylvia 1 und 2 annähernd gerecht. Beide Begegnungen waren ohne Dauer und vorübergehend in jeder erdenklichen Weise. Und ein zusätzlicher Beleg dafür ist, dass nun scheinbar nichts mehr nachkommt, ihre Identität wohl ein kleines unaufgelöstes Rätsel bleiben wird. Man kennt das: googelnderweise begibt man sich auf die Suche nach alten Namen, nimmt eine Spur auf, und weil doch alles letztlich so unverbindlich ist und war, lässt man die Spur auch wieder erkalten, freundlich, nichtssagend und nichts sagend. Nennen wir es kalifornische Freundlichkeit. Ich tippe auf den alten Kirchhörder Geldadel, und der Detektiv in mir muss dies wohl nun unter den ungelösten Fällen abhaken. Es kann sogar sein, dass es eine dritte Sylvia gibt, ein kurzes Bündnis einander grundfremder Wesen, einen Abend und drei Langspielplatten lang. Ich habe keine Ahnung.
NACHTRAG PARIS, JUNI 2019: heute fiel mir die einzig mögliche Sylvia ein, und jetzt verstehe ich auch, dass sie sich nie meldete, aber natürlich: Sylvia Westermann.