Neulich erwähnte M eine Freundin, die den Erzählstil von Lost schwierig fand, der ganz gemäß des Titels dieser sehenswerten Serie seltsam ins Endlose sich verliert und variiert. Spontan dachte ich dabei an eine zurückliegende Begegnung mit einem sogenannten „Guru“. Es waren jene Tage, als man Gurdjeff las und die Suche nach dem Wunderbaren sowie das Treffen mit bemerkenswerten Menschen sich zu lohnen schien wie das Beten für den Glaubensfesten in der Kirche. Gerne widersprach man dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz, die Erde sei so unbewohnbar wie der Mond. Auch Skeptiker und Nihilisten standen noch nicht hoch im Kurs, deren Zeit sollte erst später folgen. Er war der Sohn des grossen Hazrat Inayat Khan gewesen, der in seiner Heimat hohes Ansehen genoss, zudem auch Autor war einer Schrift namens The Music of Life. Peter Michael Hamel und Joachim-Ernst Behrendt erwähnten ihn in ihren Büchern. Sohn Pir Vilayat also – der Name klang nach Hirsch und Pirsch und Pionier und passte – führte die Erbschaft seines Vaters fort und war der Anführer des Sufi-Ordens im Westen. Ihm zu begegnen auf einem hohen Bergplateau in Sichtweite des Mont Blanc war ein erhabenes Ereignis. Eine bunt gewürfelte Dreihundertschaft aus aller Welt kam dort zusammen, um zu meditieren und Musik zu machen. Ich assistierte R in einem Workshop, wo man die eigene Stimme als „Spiegel seines Selbst“ wahrnahm, ein Buchtitel von Roland Barthes war richtungsweisend: Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied. Hernach kam man spielend vier Töne höher als zuvor, genoss die Rauheit seiner Stimmbänder und war auch ansonsten recht locker. Mit dem Sufismus selbst hatte ich eigentlich nichts am Hut und mit sogenannten „Gurus“ auch nicht. Doch dieser indische Weise war sympathisch, humorvoll, strahlte Würde und grossväterliches Wohlwollen aus. Das Essen war vegetarisch und das Wetter dort oben sehr wechselhaft. Auch die Gefahr, sich zu verlieben, war sehr gross. Lawinen gab es aber keine. Im Retreat sprachen wir zehn Tage lang nicht. Man zog sich in sein Zelt zurück, ging zuweilen wandern, traf sich schweigend nur, zu den Mahlzeiten etwa. Manchmal kam R vorbei, wir sassen vor meinem Zelt, genossen den Ausblick, rauchten eine Selbstgedrehte, tranken meinen Instantkaffee, denn offiziell gab es nur Chicoree. Nach dem Retreat war Fragestunde im grossen Rundzelt, mit dem Blick auf die Gletscherkulisse des Mont Blanc. Wir alle teilten scheinbar ein Problem: „Warum wird man während der Meditation permanent gestört durch Wünsche von Besitz, Besitzenwollen und dem Stilisieren von Gegenständen zu Kultobjekten?“ Des Gurus Lösung lag parat: man solle die Dinge nur als Mittel zum Zweck benutzen, nicht als Objekt der Begierde, Anbetung und Identifikation. Dann fragte Jemand, was er denn von Psychoanalyse halte. Interessiert spitzte ich meine Ohren. Das Unbewusste sei wie ein Tiefseefisch: der Analytiker versuche, ihn an Land zu ziehen, aber was er bekomme, sei kein Fisch mehr, sondern etwas Totes, seiner natürlichen Umgebung entzogen. In der Meditation aber lerne man zu tauchen. Jahre später begegnete ich dem grossväterlich symphatischen Inder erneut, auf einem Meeting in Norddeutschland. Wir sassen auf unseren Meditationskissen und ich liess mich von seiner angenehmen, mir vertrauten, besänftigenden, mit Witz gewürzten Stimme umfangen. Hinter mir flüsterte eine junge Frau ihrer Freundin zu: „Verstehst du was? Ich verstehe gar nichts.“ Ich musste schmunzeln, denn ich wollte ihn gar nicht verstehen und verstand ihn wohl genau deshalb. We sat in the same boat, diving in the same ocean. „Meet me on the higher planes“ – das waren oft des Gurus Worte. Doch ich hatte mich überschätzt bei meinem Höhenflug. Plötzlich war ich, auf dem Meditationskissen sitzend, ein Vierjähriger im Morgentau auf einer riesigen Wiese, Hasen hoppelten um mich herum. Diese Sinnesschärfe und Offenheit machten mir Angst, hauten mich regelrecht um. Panikartig reiste ich ab Richtung Heimat, zurück in gewohnte Gefilde. Einer jener Momente im Leben, die man als Niederlage verbucht und der Magie aus Mangel an Mut wie im Nu verpuffen lässt. The return of the anti-hero. Zurück zur Freundin von M: gerade sah ich Sneaky Pete, die Serie über einen trickreichen, windigen Filou. Das ist witzig, genial fotografiert, mit wunderbaren Typen auch. Aber die Handlung ist vertrackt, sprunghaft und schnell. Ich wollte aber gar nichts verstehen, nur wie blöde mich dem Flow hingeben – und hatte doch am Ende das Gefühl: I got it all. Was den Umgang mit Dingen als reines Nutzobjekt angeht, ohne jede kultivierende, ästhetisierende, identifikatorische Attitüde: da bin ich immer noch recht ratlos und auch vor so mancher Situation laufe ich noch davon. Ach wären wir doch Fernsehhelden! Und Meditation betreffend: leider hat sie nicht mehr die Schärfe jener Zeit, als wir noch Gurdjeff lasen, nach Tiefseefischen tauchten und keine Psychoanalyse brauchten. Doch heutzutage sind die Serien besser, und nichts geht über guterzählte Stories.
5 Comments
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Michael Engelbrecht:
Sehr spannend zu lesen. Viele Gedanken.
Und vor allem: eine gute Story, und sicher auch wahr. Food for thought and talk.
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Michael Engelbrecht:
Joey, wir s i n d Fernsehhelden. Die Ähnlichkeiten zwischen Sawyer und mir sind verblüffend :)
Im übrigen glaube ich, dass Meditation immer noch eine verdammt gute Art ist, das Leben zu bereichern.
Hochinteressant finde ich den Punkt deiner Story, in der du die Flucht ergreifst, weil du dich, vierjährig, krabbelnd auf einer Wiese, wiederfandest.
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Wolfram:
Ja, das ist wirklich auch eine sehr schön erzählte Geschichte, bei der die Erinnerungen wie Flipper aus dem Wasser springen.
Das Gleichnis mit den Fischen regt mich natürlich zur Widerrede an, die von Gurus in der Regel nicht so geschätzt wird. Auf den ersten Blick mag diese Fischgeschichte betörend weise erscheinen – aber ist sie das wirklich? Welcher Psycho käme denn auf die Idee, tonnenweise -sic!- Fisch unter seine Couch zu schieben, wo er erbärmlich stinkt, und höchstens Couch-Surfer maritim entzückt.
Das alles ist nachzulesen bei Sigmund Freud in seinem Buch „Der Fisch und seine Beziehung zum Unbewussten“, mit einem postmeditativen ernährungswissenschaftlichen
Kapitel: „Moby macht dick“ (ebenda).Eigentlich ist es aber eine traurige Geschichte, wenn all diese uralten Lebewesen mit all ihren Eigenarten, ihrer Eleganz, ihrer Hässlichkeit, ihrer Weisheit, ihrer Integrationsfähigkeit ausgestorben sein werden.
Das menschliche Unbewusste wird Bilder verlieren und verarmen.
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Wolfram:
Und dann steht plötzlich eine Erinnerung da, wie das Piano in „Das Piano“: an einen Workshop mit Peter Michael Hamel. Alle sollten IHREN EIGENEN TON finden.
Berendt hätte wohl eher von Sound gesprochen; da die Suche aber an 1 Klavier stattfand, passt Ton ganz gut. Der Meister war streng, die Schüler frustriert – der Ton musste unter einer einzigen Taste liegen. Die Schüler durften also nicht brillieren. Manche wurden wütend, weil sie sich in ihrer Kreativität eingeschränkt fühlten.
Ich habe Jahre gebraucht, bis der Ton plötzlich da war. Einfach so. Egal mit wie vielen Tasten. Er ist launisch, verschwindet immer wieder mal auf längere Zeit.
Der Chansonier Christophe spielt in einem Kurzfilm, den Martina hier vorstellte, einen alternden Musiker auf der Suche nach diesem Ton, mit Klavier und Mundharmonika und brüchiger Stimme. Auch als Zuschauer spürt man ganz genau den Moment, in dem er plötzlich über allen Schnapsflaschen schwebt.
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Martina:
[Spät, aber doch …] Es ist so ein faszinierender, mäandernder Text, Jochen.
Die Meditationsformen, die mir am meisten liegen: Drei Seiten handschriftliche Notizen, ohne den Stift abzusetzen / Fahrradfahren / Gute Filme schauen – alles möglichst jeden Tag!