Manafonistas

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Archives: August 2018

 

Just another day on earth. Nach 170 Kilometern auf der Autobahn blicke ich auf das Cover einer heiss erwarteten CD. Was mich da wohl in meinem „elektrischen Kerzenstudio“ erwartet? Das Cover kommt schon mal gut, und die lyrics sind surreal wie eh und je. Aber, was gab es schon alles für Enttäuschungen in diesem Jahr! Und immer noch keine offizielle Bestätigung, dass das Album des Jahres 2018 im Spätherbst auf den Markt kommen wird: die 50th anniversary edition of „THE WHITE ALBUM“. In einem Zustand fortgeschrittener Verzauberung lauschte ich neulich der Monofassung auf Vinyl, jener Seite mit „Why don‘t we do it on the road“. Ein eigentlich nicht ganz so grandioser Song der Beatles, der aber in den nahtlos ineinanderübergehenden  Liedern geradezu vollkommen wirkt. Ich dachte immer, ich sei stets vorne mit dabei, ich bin aber komplett retro. Ich legte die Nadel wieder auf die Einlaufrille, und die Sequenz begann erneut. Zweimal bekam ich pure Gänsehaut. Ian MacDonald schrieb einst ein Buch, in welchem er alle Beatles-Songs vorstellte: „Revolution In The Head“. Ich teile da gar nicht seine Verrisse einiger Lieder der Spätphase, in denen er Unreife und Regression witterte, und es am LSD-Konsum der Fab Four festmachte. Na, was soll‘s? Heute morgen bekam ich die Mail jenes Autoren, der hier zu Beginn der Weihnachtstage seinen Text „Alte Klamotten – ein kleiner Trip durch die Lyrik der 1970er Jahre“ (überarbeitet) präsentiert. Er bittet die Leser der von mir ausgewählten 12 Gedichte um angeregte Kommentare, die er noch teilweise einbauen möchte. Auf die eingangs angesprochene CD mit den herrlich gedeckten Farben auf dem Cover komme ich dann demnächst zu sprechen. Jetzt aber ist es Zeit für „Igel auf der Picknickdecke“, einen Artikel von Ulrich Hartmann, mit dem Unteritel „In Thomas Delaney, Mahmoud Dahoud und vor allem Axel Witsel verfügt Dortmund über ein Mittelfeld-Dreieck, das den BVB taktisch unberechenbar macht“. Sein Wort in das Ohr des Fussballgottes. Und gleich dann auf in die eigenen vier Wände. Die grüne Kerze anzünden. Und hoffen, dass die Silberscheibe so gut ist wie der Titel: „Songs You Make At Night“.

 

Seine Großeltern überlebten auf einem ärmlichen Bauernhof, sein Vater unbekannt. John Williams, Jahrgang 1922, schlug sich nach der Schule als Mitarbeiter verschiedener Zeitungen und als Radiosprecher durch, meldete sich dann als Freiwilliger bei der United States Army Air Forces. Nach dem Krieg: Studium im Fach Englische Literatur, Promotion, Karriereende als Assistenzprofessor an der University of Missouri (bis 1985). Bereits 1948 veröffentliche Williams sein Debüt Nichts als die Nacht. 1960 folgte Butchter`s Crossing, 1965 Stoner und schließlich 1973 Augustus. Auch wenn sein letzter Roman mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, konnte John Williams nicht mehr den Erfolg seiner Bücher erleben, er starb 1994.

Anfang des neuen Jahrtausends wird Williams endlich entdeckt, 2013, nach fast 50 Jahren erscheint Stoner in deutscher Sprache, zwei Jahre später Butcher´s Crossing, 2016 Augustus.

Meine John-Williams-Lektüre begann mit Stoner. Stoners Leben wird in einem großen Bogen, von Geburt an, über Kindheit und Jugend – er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf einem Bauernhof auf – Studium, akademische Karriere, Hochzeit, Ehe, Ehekrise, bis hin zu Krankheit und Tod erzählt. Diese Geschichte zu lesen, fasziniert von Anfang an. Der Leser kann so gut nachvollziehen, fast miterleben, wie Stoner versucht, ein gutes, ein wahrhaftiges Leben zu meistern. Ein ums andere Mal scheitert er, beruflich und privat: Auf Grund von Intrigen, hinterhältigen Machenschaften eines Professors bleibt er im akademischen Mittelbau stecken; er heiratet die falsche Frau, klammert sich an sein Kind, versucht immer und immer wieder das erfüllte Leben zu erlangen, vergeblich. Vielleicht ist es gerade das, dass hier jemand versucht, trotz aller Widrigkeiten, sich treu zu bleiben und die Frage „Was macht gutes Leben aus?“ nie aus dem Blick zu verlieren, was den Leser an diesem wahrhaftigen und auch sprachlich grandiosen Roman fesselt. Zitat:

 

Er hatte jene Phase in seinem Leben erreicht, in der sich mit wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war …

 

Nach Stoner habe ich, eigentlich war das so gar nicht geplant, einen ganz anderen Williams-Roman gelesen: Butcher`s Crossing. Die SZ nannte diesen Roman einen “Anti-Western“. Mir gefällt diese Bezeichnung nicht, für mich handelt es sich hier um einen ganz unglaublich guten Western, freilich um einen höchst ungewöhnlichen, und ich würde mir dringend wünschen, Wim Wenders würde dieses Buch verfilmen. In Butcher´s Crossing kommt der Held nicht vom Lande, nein,er kommt aus bürgerlichen Verhältnissen und möchte das wahre Leben in der Natur finden, sein Name: William Andrews. Nach seinem Harvard-Abschluss reizt ihn nicht die brügerliche Karriere, sondern die Suche nach einem ursprünglichen, wahrhaftigen Leben. Nachdem unser Held 1870 Boston verlassen hat, trifft er nach langer, beschwerlicher Reise in Butcher`s Crossing, Kansas, auf den Jäger Miller, einen Mann, der die Natur, die Büffeljagd, das ganze Leben kennt, dem man sich anvertrauen kann. Mit ihm und seinem Freund beginnt der Ritt ins große Abenteuer …

Die Witwe von John Williams antwortete im Dezember 2016 der Süddeutschen Zeitung auf die Frage, weshalb ihr verstorbener Mann als Universitätsprofessors diesen Western geschrieben habe:

 

Nun, er lebte im Westen. Die Berge, die Flüsse waren für ihn greifbar. Als er an „Butcher’s Crossing“ schrieb, zog er einfach mit einem Zelt los in die Wälder. Ich glaube, er lag innerlich im Clinch mit Ralph Waldo Emerson, der die Natur für gütig hielt. Ich glaube nicht, dass der Roman autobiografisch ist, aber da steckt viel von seiner eigenen Erfahrung drin.

 

Die Natur wird in diesem Roman ganz und gar nicht als “gütig“ beschrieben, als grandios, das ja, aber eben auch als tödlich. Mich erinnert Sprache und Inhalt so sehr an Ernest Hemingway, an Tod am Nachmittag, Inseln im Strom, Der alte Mann und das Meer und an die Nick Adams Stories, dass ich zuweilen dachte, Hemingway habe einen Western geschrieben. Immerhin, auch ihm ging es letztlich um die Frage nach einem wahrem, einem sinnvollen Leben. Butcher`s Crossing, ein packendes Buch!

2018 27 Aug

Borussia

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Es ist fast surreal, in Strobels‘ Biergarten live dem Fussballgeschehen zu folgen, das keine hundert Meter weiter live stattfindet. Die Laufwege dorthin sind mir seit meiner Kindheit und dem 2:2 des BVB gegen den HSV immer vertrauter geworden, der kurze Weg vom Max Planck-Gymnasium zum Stadion Rote Erde, später über die Brücke, an der Westfalenhalle vorbei, ins Westfalenstadion. Wie gestern,  beim 4:1 gegen Leipzig. Sicher gute fünfzig mal etwa war ich Teil der „gelben Wand“, oft sass ich auf der Haupt- oder Westtribüne, und Sternstunden ziehen in der Erinnerung genauso vorbei wie seltsam blasse, nachhalllose Spiele. Wieso etwa erinnere ich mich an ein müdes 0:0 gegen Braunschweig aus Asbach Uralt-Zeiten? Wenn man an mitunter rauschhaften Festen teilnimmt, als Fan, keine Frage, könnten ja all die erlebten Spiele zu einem vogelwild wuchernden Mix der extrem gemischten Gefühle werden, Zeitlinien sich kreuzen und auflösen – umso verblüffender, wie jener Grottenkick von neunzehnhundertwasweissich eine fast fotografische Spur hinterlässt. Weil. Ja, weil im Inneren sich mitunter eine geheime Welt öffnet, die kein Aufgehen in der Menge erlaubt, und von keiner Statistik erfasst wird.

 

 

EINEN JENER KLASSISCHEN

 

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

 

Rolf Dieter Brinkmann

 

 

 
 
 

I don‘t know if any Manafonista will write some lines and add a fourth or fifth album to our column of „albums of the month“, but the selection so far is a strong palette of energies ranging from the introspective to the ecstatic, zigzagging between these areas more than once. Arve Henriksen, The Necks, and bass player Barre Phillips! And, just to fastforward a little bit, Aby Vulliamy‘s album „Spin Cycle“ will be one of our October albums. 

I‘m quite scceptical about another great album to be released from our, or at least, my personal heroes. Till December 6th, the day of our 2018 retrospectives. Many albums that came along carrying high expectations, were disappointing. Even albums that were on my best of  2018 so far-list couldn‘t stand the test of (a very short span of) time. Jon Hopkins and Steve Tibbetts are still standing strong, but to be honest, in recent times, I do find more interesting stuff in the reissue-department. Ekuka Morris Sirikiti, for example. I didn‘t know him, too :) – old thumb piano recordings buried deep down in Africa.

Or Ivor Raymonde. Have a look into the archives of a nearly forgotten composer, the father of the Cocteau Twins‘ Simon Raymonde. His dad came from an era that had brought strings and reeds full circle to add to the magic of songs. Like young Bowie! He had lost his impact when the guitars took the front rows. (I wouldn‘t call it „my“ music, but it is that kind of old-fashioned stuff, I like to listen to from time to time, it really touches my „sentimental nerve“, so to speak. And I have a knack for artists named Ivor, like Ivor Cutler, the late magician of words, a friend of Robert Wyatt, and the bus driver from „The Magical Mystery Tour“.)

Patricia Hampl‘s book is pure meditation. You can read it slowly, and finish it with a feeling of deep enjoyment after about one or two years, I‘m sure about that. It‘s a book ideal for the bedside, long-distant flights, the restroom, the waiting rooms, and the beaches at the end of the world (Sylt, Blackpool, St. Jean-de-Luz). It‘s all about the cherishing of daydreaming, the wonders and joys of getting rid of time-killing agendas. The free zones of the mind are the basics for still getting surprised by oneself. One of the main figures is the champion of sharp words and short-cut truths, Michel de Montaigne.

„The Book of Hidden Things“ is one of the best novels, I‘ve  read in quite a time. Let‘s call it a book dealing with supernatural matters, and some will turn away immediately. On a deeper level, it is simply a book about, well, oh, come on, find out for yourself. It‘s thrilling, thought-provoking, with well-designed characters, and all located at another end of the world, in the deep south of Italy. (Besides everything else, it made me think of the best pizza I ever had, made by an Italian master cook in Brooklyn.) Such a cracker! And, funny enough, yesterday I got a present from an Italian guy, a fantastic red wine made and bottled in Salento. Felt like I was inside the book again.

Do you remember the first three seasons of „Die Brücke“ / „The Bridge“, with that female detective who‘s easily as outstanding as the protagonist of the Stig Larsson books? Now it all comes to final solutions, in the last season of one of the best editions of that „Scandi Noir“-genre. As far as I know there is no other BluRay edition like the one with original language and English sub-titles. A way to make your possibly favourite flawed heroine even more real – with her „real“ voice!

 

P.S. Was Thriller und Kriminalromane einsamer Klasse angeht, sollten Leser, die gute deutsche Übersetzungen bevorzugen, Keigo Higashinos im Tropen-Verlag erschienenen Roman „Unter der Mitternachtssonne“ ins Auge fassen, die englische Übersetzung gewann u.a. den „Mana Thrill Factory Prize 2018“. Ein unfassbarer Leserausch (mit dieser Meinung stehe ich nicht allein.)

 

2018 25 Aug

Pirsig reloaded

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Die Dinge, die wir am besten kennen, sind jene, mit denen wir uns in beständiger Praxis auseinandersetzen. Von Heidegger stammt die berühmte Feststellung, dass wir einen Hammer nicht begreifen, indem wir ihn anstarren, sondern indem wir ihn in die Hand nehmen und mit ihm hämmern.

(Matthew B. Crawford)

 

Dass man den Robert M. Pirsig nun endlich ruhen lassen möge mitsamt allem Zen und der Kunst, ein Motorrad zu warten, hörte ich desöfteren von intelligenten Zeitgenossen. Aber der Wille trotzt: das Ich ist nicht Herr im Haus des Cogito und so wünscht der reflexive Verstand, der immer wieder gerne auf richtungsweisende Einflussnahmen der Vergangenheit zurückgreift, dass jenes geniale Buch über Philosophie, Selbstsuche und die phänomenologische Definition von Qualität regelmässig auferstehe im Geiste. Es ist nämlich so, dass jene aufgezeigte Dichotonomie von romantischer und klassischer Weltanschauung immer noch brandaktuell ist, beispielsweise hinsichtlich eines denkwürdigen Wechselspiels von Betrachtung und Operation. In dem Moment, wo man zu handeln beginnt („Handwerk“), ändert sich nämlich jene Sichtweise, die etwas als absolut, gegeben, unverrückbar und unantastbar annimmt. Ich kann einen störenden Fleck auf der Tapete ewiglang ehrfurchtsvoll anschauen, doch eines fernen Tages dann im Jahre 2084 putze ich ihn einfach weg.

 

2018 24 Aug

Scott Walker goes Pop again

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60s pop star turned darling of the avant garde Scott Walker has joined with Australian pop singer-songwriter Sia to score Vox Lux, the forthcoming second feature by director Brady Corbet, starring Natalie Portman (…), after Walker penned the tense, oppressive score for Corbet’s debut film, ‚The Childhood of a Leader‘. – The Guardian

 

 

 

 

Den klassischen Double-Take kennt man aus Stummfilmen, zum Beispiel bei Laurel and Hardy: ungerührt wird eine Aktion zur Kenntnis genommen, bis mit zeitlicher Verzögerung gestutzt wird, und der wahre Sachverhalt aufscheint. Wer unsere Double-Takes mit ECM-Platten kennt, wird natürlich nur eine minimale Reaktionszeit brauchen, um zu erkennen, dass Neil Youngs „Hitchhiker“ nicht zum ECM-Katalog zählt. Und doch haben diese beiden Schallplatten, die sich bei mir nie abnutzen, einiges geneinsam, man schaue nur auf die Umschattung der Coverfotografien.

Beide stammen aus den 70er Jahren, nur erschien Neil Youngs Soloperformance erst Jahrzehnte später – bei Jarrett stand „Facing You“ am Beginn vieler atemraubender Solodarbietungen. Im Studio waren aussser den Musikern jeweils nur zwei weitere Personen, Manfred Eicher und Jan Erik Kongshaug in Oslo, sowie  David Briggs und ein mit Neil befreundeter Schauspieler, dessen Namen mir gerade nicht einfällt, an der West Coast.

Beide Tonaufzeichnungen sind überragend, und was die Ausstrahlung der Musik angeht, sind „intimacy“ und „intensity“ zwei reflexhaft auftauchende Wörter, die auch kurzem Nachdenken standhalten. Der gebürtige Kanadier hatte ein Heimspiel auf seiner Ranch, Haschisch war in dieser Nacht dabei, und, was weiss ich, sonst noch. Er betrauerte en passant das Ende einer grossen Liebe, und David Briggs scheint den Regler für die Gitarre ein wenig aufzudrehen, während Neil Young  an den Versen von „Give Me Strength“ entlangtaumelt, in sanfter Bedröhnung. Und doch waren seine Sinne geschärft.

Sicher hat Keith Jarrett während der Aufnahme einen eher klaren (oder, Zen-technisch, leeren) Kopf gehabt, egal, wohin die Musik ihn transportiert hat. Manfred Eicher könnte sicher einiges zu dieser magischen Dreiviertelstunde erzählen, den Stunden davor, dem Tag danach. Die eine oder andere Frau geistert, schaut man sich die Titel an, auch durch diese Platte, die in einer Doppel-Besprechung im Down Beat neben Paul Bleys „Open, To Love“ auftaucht: beide erhielten fünf Sterne, aber das wäre ein anderer „Double Take“.

 

 

 
 
 

In einem Zeitraum von zwanzig Jahren veröffentlichte das schottische Duo Boards of Canada vier  Alben, in denen die Brüder Mike Sandison und Mark Eoin eine eigene Klangsprache erfanden, gespeist aus zahlreichen Quellen. Tomorrow‘s Harvest war ihr bislang letztes Album: ein strengerer Ton als auf den Vorgängern – das Erinnerungsselige, Verspielte, Melodientrunkene nicht mehr in Hülle und Fülle auffindbar, eher Mangelware. Die Stärke der beiden Schotten war immerzu das Verwischen der Grenzen von Verzauberung und Verstörung. Von reinem Staunen und, mitunter gar nicht so sanftem, Erschrecken. 

Tomorrow‘s Harvest ist das dunkelste Album der Brüder Mike Sandison und Marc Eoin, dystopisch, dysphorisch – man setzt bewusst Elemente aufs Spiel, welche die Band 1998 so schwebend ins öffentliche Bewusstsein gehoben haben. Ihr erstes und berühmtesttes Werk ist Music Has The Right To Children. Löst man man sich von verführerischen  Oberflächen, ist es kaum weniger unheimlich als  Tomorrow‘s Harvest. Es ist voller Gespenster.

Durch den Gebrauch vorzugsweise beschädigter Instrumente, ungestimmter Synthesizer, Stimmfetzen, und eines mitunter verwaschenen Klangbildes, – wurde auf jenem Klassiker die Empfindungswelt, der Sound von Nostalgie zum Thema gemacht. Jene Sehnsucht nach einem Zuhause, das nicht länger existiert, oder niemals existiert hat.

Boards of Canada verweigerten sich den Moden der Electronica ihrer Zeit. Sie liebten eine unstete, schwankende, verwackelte Textur, die an Uralt-Filmspulen erinnerte, an verstaubte Magnetbänder, an abgelagertes Vinyl, alles anfällig für Verfall, Verzerrung – und Wiederentdeckung. Bei manchen Stücken von „Music has the right to children“ springen einen Erinnerungen geradezu an – jeder kennt gebleichte Fotosammlungen, die Zeitreisen des Anschauens alter Super-8-Filme der Kindheit – und all die gespeicherten Emotionen. Aber dieses Cover: die Gesichter der Menschen – Leerräume. Wie sahen die Augen aus dieser Gestalten, die uns, gefiltert in fahlem Grün, eben nicht anschauen? Horror. 

 
 

Weisst du noch, damals. 

Nein. 

Weisst du noch.

War es schön, es war doch schön, manchmal, oder.

Ja ja, auch. Aber.

Aber.

Es war auch … anders.

Unheimlich.

Unheimlich. 

Manchmal unheimlich glücklich.

 
 

In diesem Osillieren von Erinnerungsverlusten und Erinnerungsschüben steht immer alles immer auf der Kippe. Der Nachfolger heisst Geogaddi und verschärft den Ansatz der Brüder Sandison und Eoin: die Zahlenmystik wird mysteriöser, ein Art nicht lineares Zählen und Erzählen voller Bewusstseinslücken, „Life is a history pf holes“. Die akustischen Schnappschüsse noch verwaschener, Bruchstücke wahrer Empfindungen, wahrer Unheimlichkeiten. 

 

Ein Stück wie „1969“: Anspielungen an die Waco-Sekte, das Aufflammen satanistischer Kulte in den USA in einer Zeit, als die Welt voller Hoffung war. The Greening of America. Das anbrechende Wassermannzeitalter Der „Summer of Love“ erst zwei Jahre vorbei. Und man hört eine vollkommen naive Stimme vor sich hin summ-singen: „sun is shinging in 1959“, „sun is shining in 1969“. Zeit zerfliesst. In einem einzigen Leben begegnet man genug Dämonen. 

Geogaddi: jede sanft-schlurfende Melodie kann von einem Dunkelbeat aufgesogen werden. Boards Of Canada lassen die Freiheit: man kann sich gepflegt wegschiessen, feinster Eskapismus – und die Sinne schärfen. Oder beides zusammen. Die Schotten kreieren immense Projektonsflächen. Ein Betriebsgeheimnis: allen Empfindungen ihre leichte Beschreibbarkeit auszutreiben, die Reise ins Vorsprachliche. 

Und dann Opus Nummer Drei: The Campfire Headphase. Da kamen die Gitarren hinzu, und manche rümpften die Nase. Aber die Musik blieb reichhaltig. Die Gepenster gingen auch nicht verloren. Nur anfangs wirkt die Musik zu eingängig, als wollte man der Sammlung Klang gewordener Sonnenuntergänge in den North Western Highlands noch den vollkommensten hinzufügen. Aber schon bald tauchen sie wieder auf, die Risse, die Löcher in der Musik.

 


 
 
 

Im Lauf der Jahre geisterten durch meine Nachtsendungen ein paar, gern variierte Sätze, u.a. „Die Häuser der Kindheit müssen ihre Dämmerung behalten“, von Gaston Bachelard, und wenn ich von „Regressionen im Dienste des Ichs“ sprach, zitierte ich den Psychoanalytiker Georg Groddeck. Beides kommt bei mir in letzter Zeit zusammen, wenn ich mir so angucke, was ich mitunter für Platten auflege. Oder welche Lust ich manchmal auf alte Filme verspüre, jetzt ist gerade „Bullitt“ dran, genau, der Film mit Steve McQueen.

 

Es ist auch nicht typisch für mich, dass ich seit einiger Zeit ganz gerne bestimmte Platten auflege, die lange vor meiner Jazz-Entdeckungs-Zeit aufgenommen wurden. Vorzugsweise „Way Out West“, von Sonny Rollins, und „Midnight Blue“ von Kenny Burrell. Ich sehe keine Bilder beim Hören von Klängen, aber es fällt mir leicht, innere Filmsequenzen abzuspielen, wenn ich es will. Und genau das will ich zuweilen, wenn mir bewusst wird, dass diese Aufnahmen Zeit still stehen lassen, Zeit ablichten.

 

Ich schaue mir das Aufnahmedatum der beiden Platten an, und katalputiere mich in das jeweilige Studio. Von beiden Studios habe ich etliche Fotos, so dass ein beträchtlicher Realismus garantiert ist. Ich sehe die Musiker vor mir, sie trinken Bier, reden miteinander (ich schnappe einzelne Sätze auf), in der Regel gehe ich vor die Tür, und wenn ich weiss, wann die Session beginnt, suche ich mir eine Bar in der Nähe. In einem Fall ist es 1957, überlegen Sie mal! Wir sind zehn Jahre vom „summer of love“ entfernt, die Bars und Skylines erinnern mich an all die Filme, die ich aus jener Zeit kenne, „black and white and beautiful“. Einmal hätte ich fast Ray Barrettos ersten Auftritt an den Congas verpasst, als ich in der „Upper River Bar“ einen Whisky zuviel trinke, und eine Lady mir etwas von ihrer Kindheit in Georgia erzählt.

 

Meine Lieblingsplatte von Joe Henderson kam erst sehr viel später raus, die mit den „Elements“, sowie Alice Coltrane und Charlie Haden. Aber den Saxofonisten bei Burrells Sessions hautnah zu erleben (nicht auf  youtube-Filmchen), und seine stoische Präsenz auf mich wirken zu lassen, ich sass neben dem Mischpult und war natürlich für alle Anwesenden unsichtbar, dies ist ja keine Hokuspokus-Geschichte – my gosh, unbelievable! (Sie ahnen schon, welche Optionen man hier in einem luziden Traum hat?!)

 

Die abgekürzte Form dieser Zeitreise geht so, dass ich, während die jeweilige Schallplatte läuft, ins Studio springe, einmal tief durchatme und dann auf einem Holzhocker lausche, lausche, lausche. Ich habe enorme Freude daran, dem Mienenspiel der Beteiligten zu folgen, und jeder, der diese, auch hervorragend aufgenommene, Musik hört, wird bestätigen, was ich sehe: „all cats are in the mode and mood  of deep relaxation – and time is on their side“. Natürlich ist für mich als Zeitenspringer selbige auch auf meiner Seite, obwohl das ein zweischneidiges Schwert ist, Teil purer Illusionskunst: eine klassische Regression im Dienste des Ichs. Und, keine Frage, die Räume der Studios müssen ihre Dämmerung behalten.

 

Und jetzt also „Bullitt“, die alten Autos, eine frühe Version von Coolness auf der grossen Leinwand, und der Soundtrack von „Bullitt“, hernach auf dem Plattenteller. Das remasterte Vinyl als Zeitmaschine. Eine Aufnahme aus dem Jahre 1968. „This new reissue by Speakers Corner received a first-class remastering from Kevin Gray, and it has earned a permanent slot in my slim soundtrack collection. Steve McQueen’s „missing“ Mustang, not seen in decades, was recently unveiled at the Detroit Auto Show and put up for auction. Few of us can spare the millions needed to buy such a treasure, but for chump change you can get a lot of the Bullitt mileage each time you replay this splendid reissue.“ (Dennis Davis, The AudioBeat)

 


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