Immer schon schaute ich gerne Film- oder Fernsehporträts eindrucksvoller Persönlichkeiten. Das konnten Schauspieler sein, Musiker, Maler, Politiker, Buchautoren oder einfach ganz besondere Menschen. Kürzlich entlieh ich aus der Bücherei Wer hat Angst vor Sibylle Berg? – das Porträt einer Schriftstellerin, deren Schaffen ich seit langem interessiert verfolgte, ähnlich wie das des Peter Sloterdijk, den ich auch schon las, als ihn kaum jemand kannte. Sein spiritueller, tiefgründiger Skeptizismus, der zwischen Licht und Abgrund oszillierte, sprach mich spontan an. Das Interesse für „ungehöriges“ Denken flammte auch auf beim Lesen der Bücher von „Frau Sibylle“, im Kontext einer Begeisterung für Cioran und andere, die Gottes Schöpfung für weniger gelungen hielten, als es der fromme Kirchgänger tat.
Dieses Filmporträt der Neuschweizerin aus Weimar nun, die zuweilen „moralinsaures Monster“ und „Predigerin des Schreckens“ genannt wird, halte ich zwar nur für halbwegs gelungen, allerdings nicht ganz verfehlt, gibt es doch allerlei Details preis. Es beginnt gleich gruselig zombieesk in einem Traumhaus in Los Angeles („We fuck off!“) und wiedereinmal zeigt sich, wie hohl doch mancher Traum ist, wird er erst materialisiert. Ohne Moos nichts los? Es ist wohl eher kulturelle Bildung, die den Ausschlag gibt. Nie wollte ich es jemals ausplaudern, was K mir damals anvertraute in jenem sagenhaften Computerseminar: dass Frau Berg sich das Gesicht mit brauner Schuhcreme färbte, einst in gemeinsamer Hamburger WG-Zeit, sich dazu Rastalocken flocht und angab, sie sei Brasilianerin. Im Film gibt es die Autorin ja nun selbst preis. „Was macht die eigentlich jetzt beruflich?“ Verduzt ob der Unkenntnis lieh ich K meine Berg-Bücher, auf dass sie ihr auch literarisch nahekomme.
Wie so oft beim Schreiben verselbstständigt sich eine Abdrift der Gedanken: vom Thema abgekommen, das eigentlich Geplante fast vergessen. Denn wenn der Flow entsteht – und die Erinnerung ist dafür immer eine gute Quelle – macht sich das Sagenwollen locker, leicht und selbstständig. Schreibblockaden verschwinden flugs am Horizont. So auch hier und jetzt: denn in den Sinn kam mir ursprünglich ein TV-Porträt aus längst vergangenen Zeiten, in denen das Internet noch in den Kinderschuhen steckte und man sich Illusionstoff auf ganz andere Weise schaffte. Porträtiert wird diesmal eine „echte“ Brasilianerin, die ursprünglich Kunst (oder war es Design?) in Paris studierte, dann in Rio (oder war es in Sao Paulo?) einen reichen Möbelfabrikanten heiratete, somit zur High Society des Landes avancierte.
Das jedoch reichte dieser Dame nicht als Lebenssinn. So nahm sie sich der Strassenkinder an. Man sah sie beispielsweise nachts auf staubigem Gelände, sie hielt den Kopf eines verwahrlosten Strassenjungen in ihrem Schoss und zupfte ihm die Läuse aus dem Haar. Heerscharen anderer Kinder standen um sie rum. Obwohl sie regelmässig Parties feierte mit den Reichen ihres Landes, war doch die Strasse eher ihr zuhause. Einmal sah man sie duschend unter einem Wasserfall, umringt von Bananenbäumen und Papageien: eine barocke Naturschönheit, wie sie wohl nur Brasilien bisweilen aus dem Zuckerhut zaubert. Power, Eros, atemraubend. Warum ich das überhaupt hier schreibe und dieses Filmportrait nicht vergesse? Festhalten, jetzt kommt´s! Auf die Frage, ob sie Freunde habe, antwortete sie – erdverbunden, lebensfroh und sozial kompetent, wie sie war: „Nein, eigentlich nicht.“
Dann stutzt sie, überlegt und korrigiert sich: „Doch, mein Computer ist mein Freund.“