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2018 23 Feb

Gregor öffnet seinen Plattenschrank (157)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | Tags:  | 3 Comments

Er war gerade sechs Jahre alt geworden, als er zum ersten Mal allein in die Innenstadt fahren durfte. Zunächst galt es zur Straßenbahnhaltestelle zu schlendern und dann zu hoffen, dass eine alte Straßenbahn kommen möge, die mit den Holzsitzen und der langen Lederschnur unter dem Straßenbahndach, an dem der Schaffner kräftig ziehen musste, um ein schrilles Läuten auszulösen, was dem Fahrer bedeutete, dass er nun abfahren durfte. Diese alten Bahnen, die 1959 manchmal noch durch Hannover fuhren, hatte er ins Herz geschlossen. Und tatsächlich, an diesem Tag kam die betagte Bahn mit der Nummer 5. Er kaufte beim Schaffner eine Kinderfahrkarte und los ging es bis zum Aegidientorplatz. Dort führte sein Weg zunächst zu einer Filiale der Firma MOST. Bis 1999 konnte man bei MOST edle Süßigkeiten kaufen, Ende der fünfziger Jahre, da gab es die Firma schon 100Jahre, bekam man zumindest hier in der hannoverschen Filiale für ein paar Groschen ein große Tüte Süßigkeiten-Bruch. Weiter führte der Weg des Jungen an den Mercedes-Benz-Ausstellungsräumen vorbei, magisch angezogen von den wunderschönen Autos, konnte er sich von den Schaufenbstern kaum lösen. Dann am Theater-Am-Aegi entlang – das Theater sollte 1964 in Flammen aufgehen und ein riesiges schwarzen Loch hinterlassen, was den Jungen stets in Schrecken versetzte – in die Maschstraße. Hier gab es nicht viel Interessantes zu schauen, außerdem war diese uninteressante Straße auch noch sehr lang, bis sie dann schließlich in die Meterstraße mündete. Hier, auf dem Gelände einer Schule waren die Übungsräume des Knabenchor Hannover, dem der Junge nun angehören sollte, untergebracht. Er hat das Singen im Chor gemocht, sehr sogar, aber die Fahrt und der Weg dorthin und wieder zurück, nach Hause, das war für ihn einfach nur großartig und er freute sich immer darauf, allein unterwegs zu sein.

 
 
 

 
 
 
Jahrzehnte ist das her, aber sein weiteres Leben hat der ehemalige Chorknabe seinen Knacbenchor Hannover niemals aus dem Blick verloren. An zahlreichen Veröffentlichungen hat er sich über all die Jahre erfreut, aber 2017 wurde er besonders hellhörig, da hat der Knabenchor Hannover eine ganz ungewöhnliche CD herausgebracht: ”New Eyes on Martin Luther” mit Jeanette Köhn, Nils Landgren, Magnus Lindgren, Eva Kruse, Johan Norberg, Knabenchor Hannover und Capella de la Torre . Jörg Breiding leitet inzwischen den Chor und er hatte während des Projektes ”New Eyes on Martin Luther” auch die Aufgabe, so unterschiedliche Ensembles musikalisch zusammenzuführen; also das von Katharina Bäuml an der Schalmei geleitete Capella de la Torre, die Gruppe Nils Landgren and Friends und schließlich seinen eigenen Chor. Der NDR hat das Konzert in Hannover mitgeschnitten und auf Act-Records veröffentlicht. Herausgekommen ist eine großartige Platte. ACT-Music schreibt auf seiner Produkt-Info-Seite u.a.: „The three ensembles just dived into the music without pre-conceptions. The traditional German folksong “Die Gedanken sind frei” is here performed with a percussive flute solo, and Landgren’s smooth voice on top of a funky rhythm. Sometimes he joins Capella de la Torre with a trombone solo and when all musicians play together it sounds as if the music was originally written with this in mind. It moves seamlessly between genres and what you can hear is the sound of really skilled musicians together – and just having fun.“
 
 
 

 

 

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3 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Eine wunderschöne Geschichte. Das mit den Trambahnen kenne ich gut. Die Musik packe ich natürlich nicht mit der Kneifzange an, egal wie hochwertig sie sein mag. Aber als Freund von Naturreligionen und Schamanismus, als Antilutherianer und Landgren-Allergiker ist das immer noch eine ambitionierte Übung in Toleranz :)

  2. Lajla:

    Das ist eine sehr anrührende Geschichte. Die heile Welt des kleinen Jungen und wir zur Freiheit Verurteilten (Sartre). Sophie Scholl spielte das Lied „Die Gedanken sind frei“ an den Gefängnismauern, hinter denen ihr Vater einsaß.

  3. Hans-Dieter Klinger:

    ich kenne solche Straßenbahnen
    weil ich als Kind oft Monate
    in Nürnberg verbracht habe
    bei meinen Großeltern
    meine Mama ging zur Arbeit
    und die Arbeitszeiten waren andere als heute
    auch der Samstag war ein Arbeitstag

    ich weiß noch dass ich mich fragte
    was diese Drähte in vielen Straßen
    für einen Zweck haben
    eine meiner Theorien war
    sie fangen den Himmel auf
    wenn er herunter fällt
    mein Großvater hat mir das ausgeredet

    Sakamoto erzählt, nach seiner Genesung Mitte 2015 habe er für ein neues Album („das ja auch mein letztes sein könnte“) noch einmal von vorne anfangen wollen. Er habe sich wieder intensiv mit Bach beschäftigt, besonders mit dessen Chorälen. „Bach wird in Japan seit der Öffnung des Landes zum Westen hin vor 150 Jahren ja geradezu abgöttisch verehrt“, sagt er, im Musikraum jeder japanischen Grundschule hänge ein Porträt von ihm. Erst habe er, ganz akribisch, seine Lieblings-Bach-Choräle Stimme für Stimme in seine Musik-Software übertragen. Und sich diese dann immer wieder, sozusagen bereinigt um jeglichen menschlichen Ausdruck, als Sinuswellen vorspielen lassen, wochenlang.

    new eyes on Martin Luther

    der Titel ist offensichtlich ein Tribut an das Lutherjahr
    unter den 21 Stücken des Albums sind nur 3 Lieder Luthers
    es ist eine schöne Sammlung mit Musik der Renaissance und des Barock
    2 Lieder stammen aus dem 18./19. Jahrhundert
    mindestens 2 Komponisten waren römisch-katholischen Bekenntnisses
       Heinrich Isaac (1450 – 1517)
       Giovanni Gastoldi (1553 – 1609)

    Heinrich Isaac ist der Komponist des wunderbaren „Insprugk, ich muss dich lassen“, ein weltliches Lied, das zum geistlichen Abendlied mutiert vorliegt: „Nun ruhen alle Wälder“. Giovanni Gastoldis „L’innamorato“ ist ein Amor verherrlichendes Tanzlied. Auf dem Umweg über eine deutsche Cover-Version von Hans Leo Haßler wurde daraus das geistliche Lied „In dir ist Freude“. Diese als Kontrafaktur bezeichnete Methode der Verwandlung durch Umtextieren wird auf dem Album vorgeführt. Stilistische Gemeinsamkeiten zwischen weltlicher und geistlicher Musik gab es in jener Zeit zuhauf. Bachs „Matthäuspassion“ unterschied sich in ihrem Habitus nicht von der Oper seiner Zeit.

    Das ist nichts Neues. Schon Soul Music entstand als Kontrafaktur des Gospel. Die Stilistik des Soul bildete sich bereits in der Mitte der fünfziger Jahre innerhalb des Rhythm & Blues heraus, vor allem unter dem Einfluss von Ray Charles. Seinem „I Got a Woman“ lag das Gospel „My Jesus is All the World to Me“ zugrunde, und „This Little Girl of Mine“ entstand aus dem Gospel „This Little Light of Mine“. Beides waren reine Übertragungen von Gospelsongs in den Rhythm & Blues-Sound der fünfziger Jahre, die nur die religiösen Textinhalte durch minimale Textveränderungen aus der Liebe zu Gott in die weltliche Liebe zu einer Frau umwandelten – sagen Wicke & Ziegenrücker.

    Was die „new eyes“, die neue Sicht auf Luther betrifft, so ist dafür wohl Nils Landgren zuständig mit meist geschmackvollen Improvisationen. Neu ist das an und für sich nicht. Er reiht sich ein in eine Kette von Musikern wie Uri Caine, Richie Beirach, Dieter Ilg und andere, die Außerafrikanische Musik zum Ausgangsmaterial ihrer Creationen heranziehen.


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