„Es war am Wochenende unseres Jahrhunderts, als ich bei starkem Unwetter auf einem westfriesischen Deich entlangging. Zur Linken hatte ich schon seit über einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh geleerte Marsch, zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee. Ich leugne nicht, ich wünschte mich mitunter in sicheres Quartier.“
(aus dem etwas veränderten Schimmelreiter von Theodor Storm)
Ich fand eine gemütliche Unterkunft in Leeuwarden. Ganz in der Nähe befand sich der schiefe Turm von Pisa, so wurde die alte Kirche genannt. Ein turmhohes Klanggebäude war daneben aufgebaut, verhängt mit durchsichtigen, „den heulenden Böen“ standhaltenden Planen. Pünktlich zu dem Jahrhundertereignis sah man nur schattenhaft das niederländische Königspaar die Kulturhauptstadt von Europa 2018 einläuten:
LEEUWARDEN UND FRIESLÂN.
Kom dyn nêst ut jonge
Li nêst waarm fan feline
Skuor iepen de gerdinen
Spring derút de dei is Nu
Hearst de klokken
(aus dem Eröffnungslied: Seis oere thus)
Alle Glocken in Friesland läuteten um 22:15 am Samstagabend. Ich stellte mir die Bauern der Einödhöfe oder der Warftanwesen vor, wie sie stolz unter ihrer Glocke standen. Oder wie der Deichgraf seinen Schimmel zur Rückkehr lenkt, um dem vertrauten Geläut die Ehre zu geben.
Mir gefällt die provinzielle Choreographie ausgesprochen gut. Hier hat ein Organisationsteam für die Kulturhauptstadt 2018 seine Umgebung betrachtet und dann geplant. Drei Kulturprojekte, in denen sich die friesische Provinz widerspiegelt, seien hier vorgestellt.
1. POETIC POTATOES
Kleine Kartoffelsäcke, an denen Gedichte befestigt sind, sollen per Schiff nach Valetta (die andere Kulturhauptstadt2018) gebracht werden. Von dort sollen Gedichte und Kartoffeln zurückgesendet werden.
2. In dem Song „Genius“ besingt Warren Zevon das „meisje“ aus Leeuwarden.
„Mata Hari had a house in France
Where she worked on all her secret plans
Men were falling for her sight unseen
She was a genius“
Das FriesMuseum widmet seine schönsten Räume seiner schönsten Einwohnerin Margareta Zelle, später dann MATA HARI.
Es sind nun 100 Jahre her, dass sie von 12 Fusilisten erschossen wurde. Ein Schuss traf ihr Herz. Da war sie 41 Jahre alt. Der meist begehrte Körper dieser außergewöhnlichen Frau wurde in ein Pariser Krankenhaus zu Studienzwecken gebracht. Ihr hübscher Kopf wurde entwendet und ist bis heute nicht auffindbar. Aktuell sitzen französische Juristen über der Akte von Agentin H21, um herauszufinden, ob Mata Hari wirklich auch für die Deutschen spioniert hatte. Bereits zweimal haben die Stadtväter von Leeuwarden nach Paris geschrieben und darum gebeten, ihr Meisje von aller Verratsschuld freizusprechen. Zweimal wurde dies abgelehnt. Man darf auf das Ergebnis der Aktenuntersuchung gespannt sein.
3. PASSAGE DE LA BALEINE 2015
Ich gehe durch die Gasse im kleinen Leeuwarden und denke an das große Passagenwerk von Paris. Dieses riesige Walskelett über mir ist jetzt echt eine Herausforderung. Wie bekomme ich es an meine Leine? Dieser Auftritt würde doch die frühere Eleganz der ausgeführten Schildkröten toppen, oder?
„Es ist meine letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz.“
(Walter Benjamin)