Im Jahr 1427 landeten die ersten Schiffe, aus den südlichen Meeren kommend, an den Küsten Portugals. Ihnen entstiegen bewaffnete dunkelhäutige Menschen. Damit begann die Versklavung europäischer Völker, verschleppt von afrikanischen Eroberern, um auf Feldern unter sengender Sonne zu arbeiten, um Gold und Silber aus …
Nein, diese Geschichte stimmt nicht. Manchmal jedoch werde ich verwickelt in Diskussionen über die Flüchtlingsströme nach Europa, und in solchen Gesprächen rege ich gerne an, sich diese „Fake History“ vorzustellen. Ich habe einfach Glück gehabt, dass ich nicht als armer Afrikaner in die Welt kam. Es ist ein glücklicher Zufall, in einem wohlhabenden Land zu leben, nicht hungern zu müssen, nicht von Kriegen heimgesucht zu werden. Ich gehöre nicht der „Paradise-Papers-Class“ an, genieße dennoch einen hohen Lebensstandard im Vergleich zu den meisten Menschen der Erde und weiß, dass für dieses „Wohlleben“ viele human beings geschuftet und gelitten haben, schon vor langen Zeiten und weit entfernt, und immer noch.
An diesem nichtswürdigen Geschäft mit Millionen afrikanischer Männer, Frauen und Kinder, die systematisch deportiert und vier Jahrhunderte lang brutal ausgebeutet wurden, waren die meisten der großen europäischen Nationen beteiligt. Diesem Geschäft verdankt sich der große Reichtum ganz Europas im 18. und 19. Jahrhundert. Aber die zivilisierten Nationen haben es bis heute nicht für nötig gehalten, allgemein um Verzeihung zu bitten oder eine (symbolische oder tatsächliche) Entschädigung für die von den Sklaven geleistete Zwangsarbeit anzubieten, die ja als Mobiliar (einfache „Werkzeuge“ ohne Seele) angesehen wurden. Ganz im Gegenteil, im Kielwasser des vier Jahrhunderte währenden Menschenhandels, in dessen Verlauf sich die wichtigsten europäischen Länder allmählich an den afrikanischen Küsten ansiedelten, haben sie Afrika „kolonialisiert“ – also als etwas betrachtet, was ihnen gehört. Als hätte Europa vom Ende des Mittelalters bis ins 19. Jahrhundert hinein beständig nur ein einziges Ziel verfolgt: alle Gebiete südlich des Mittelmeers nach und nach zu beherrschen.
Das schrieb Jordi Savall. Er ist weder Historiker, Politologe, noch ist oder war er ein Repräsentant der Befreiungstheologie. Jordi Savall ist Musiker, Mitbegründer und Leiter des Ensembles Hespèrion XXI. Im Juli 2015 fand in der Zisterzienserabtei Fontfroide im Südwesten Frankreichs ein Konzert statt, das im Januar 2017 auf DVD und zwei SACDs erschien, im opulenten Buchformat. Auf mehr als 500 Seiten sind in 6 Sprachen die Texte der Gesänge und zwischen die Musik eingebettete Rezitationen historischer Quellen mitgeteilt. Hinzu kommen Essays renommierter Historiker, die das Thema vertiefen – notabene nur im Buch.
Wo ist das „A“ des Jazz? Am 26. Februar 1917 nahm die Original Dixieland Jass Band zwei Titel auf, die, auf 78er-Schellack erschienen, als erste Jazzplatte in die Geschichte eingingen. Die Plattenfirma bewarb damals die ODJB als „Creators of Jazz“. Aber auch Jelly Roll Morton nahm für sich in Anspruch, Erfinder des Jazz zu sein. Es gibt den Einen sicher nicht. 1917 wurde Jazz zum ersten Mal greifbar dokumentiert, es sei denn, man erkennt den komponierten und notierten Ragtime, dessen Blüte sich ab ca. 1890 öffnete, als ersten Jazzstil an. Wie vor diesen Zeiten die Musik der Afroamerikaner geklungen hat, weiß man nicht. Aber mit Jordi Savalls Retrospektive habe ich ein Hörrohr, das eine mehr oder weniger begrenzte, gebrochene Anmutung vermittelt.
Neben Savalls Ensemble spielen und singen bei dieser Produktion Musikerinnen und Musiker aus Mali, Madagaskar, Marokko, Kolumbien, Brasilien, Mexiko, Argentinien und Venezuela miteinander. Alte Musik aus der Kolonialzeit, mehrstimmiger Renaissance-Gesang, trifft auf westafrikanische Griot-Gesänge und auf Überlieferungen, die sich aus der Sklavenzeit bis heute in Lateinamerika erhalten haben. Das geschieht auf eine fast nüchterne Weise, denn es werden kommentarlos lediglich Dokumente vorgeführt, musikalische und literarische. Hinreißend musiziert. Berührend, wenn man sich dieser Geschichtsstunde nicht verschließt.