Es war nach Mitternacht, ich hatte die Uhrzeit dezent im Blick. Tanja räkelte sich auf einem Sessel, sie sagte, sie würde gern noch bleiben, sei aber seit 18 stunden wach und müsse leider aufbrechen. Ich sagte, ich würde die ganze Nacht wach sein und eine Musiksendung hören. Vielleicht würde es sich für sie seltsam anhören, aber ich würde die Sendung auf Audiokassetten aufnehmen, eine Technik, mit der sie wahrscheinlich nie etwas zu tun gehabt hätte. Doch, sagte sie, Rec und Play. Die nachfolgende Generation, diejenigen, die 5 Jahre jünger wären als sie, könnten keinen Kassettenrecorder mehr bedienen. „Warum nimmst du die Sendung auf, wenn du sie doch hörst?“ fragte Tanja. Die Frage verblüffte mich. Ich beschriftete drei 90er Kassetten. Stories, Feldaufnahmen. Was macht man als Zuhörerin einer Livesendung nachts zwischen 1 Uhr und 6 Uhr? Ich war überhaupt nicht müde, vielleicht eine Fernwirkung des Eistees mit Mate, ich holte aus dem Kühlschrank ein Elderflower Tonic Water, knipste zwei Lichterketten an, eine mit bunten Stoffbällen, die mir B aus Kambodscha mitgebracht hatte, und eine puristische. Alltagsmusik aus dem Niemandsland. Schon in der ersten Stunde, in der eine Überraschung der anderen folgt, schaffte Michael es, mindestens fünf Mal den Namen seines all times favourite Brian Eno zu erwähnen. Die Vierecke der Fenster sind unbeleuchtet. Kein Hund bellt, kein Baby schreit. Ich überlege, bis zu welcher Lautstärke ich gehen kann, ich setze den Kopfhörer auf, Liegestühle, many many years, die Namen auf Steinen mit Zahnbürsten reinigen. Die Sternzeit, die Nachrichten und Staumeldungen schneide ich schon bei der Aufnahme raus. Das Doppelkassettentape habe ich seit 1994, es ist eine der besten Anschaffungen in meinem Leben. Kurz nach drei, mitten in der zweiten Audiokassette, beginnt etwas zu quietschen. Ich hole die Kassette raus. Bandsalat. Ich bleibe cool, die Kassette ist neu, ich lege eine andere ein, ebenfalls Quietschen, ebenfalls Bandsalat. Vielleicht liegt´s an der Art der Kassette, ich hole eine andere, alte, bewährte. Dasselbe. Ich beginne, nervös zu werden. Denke an Tanja und denke darüber nach, ob ich die Sendung eigentlich anders hören würde, wenn ich weiß, dass ich sie nur einmal höre und dass es keine Playlist gibt. Vielleicht ist es eine Übung im Loslassen, es ist lächerlich, etwas festhalten zu wollen. Ich mache mir ein paar Notizen, notiere Namen, schließe einen Moment die Augen, denke an den Deutschlandfunk-Radiorecorder, den ich vor längerer Zeit installiert, aber kaum verwendet habe, ich schalte ihn an, das update zieht sich Ewigkeiten hin. Von wegen Ok Computer. Ich mag sowieso keine digitalen Aufnahmen, sie machen mich nervös. The medium is the message. Ich will nicht online sein, wenn ich Musik höre. Jedenfalls will ich es nicht grundsätzlich. Und ich will auch nicht, dass das Notebook an ist, wenn ich Musik höre, jedenfalls nicht immer. Mir fällt ein, dass ich im Keller noch einen relativ neuen, ganz passablen Radiorecorder habe, ziehe Schuhe an und renne los. „Moshi“ läuft weiter ohne mich. Der Deutschlandfunk-Radiorecorder ist immer noch mit seinem update beschäftigt. Inzwischen ist es vier Uhr sieben. Ich bin von vier Lautsprechern umgeben. Zwei meiner „großen“ Musikanlage, und zwei des Radiorecorders aus dem Keller. Ich bin umgeben von „Pyramid of Skulls“ und sitze wie ein Teenager zwischen den Boxen, unfähig, irgend etwas anderes zu tun als dabei zu sein.
Tipp fürs Shelfie: „Pyramid of Skulls“ (wahlweise als DoppelCD, Doppel-LP oder und Kassettenaufnahme) passen zu Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgados Portrait des Fotografen Sabastiao Salgado „Das Salz der Erde“ und zu Benjamin Lee Whorfs Klassiker der Metalinguistik „Sprache, Denken, Wirklichkeit“.