Noch mehr singende Tatort- und Polizeiruf 110-Kommissare und -Kommissarinnen
Es fing mit Paul Stöwer (Manfred Krug) und Brocki Brockmüller (Charles Brauer) an und wurde zum Massenphänomen: Tatort – Kommissare lieben es offensichtlich zu singen, entweder bei einer Fahndungspause im Film oder im anderen Leben auf der Bühne oder im Club. Meine nicht verifizierte These heißt: keine andere Berufsgruppe singt so viel wie die Tatort-Kommissare. Außer vielleicht Cowboys. Auf keinen Fall Serienärzte. Irgendwo in den Archiven der Manafonistas befindet sich eine Liste mit ca. 20 singenden Tatort-Kommissaren. Nun wird es Zeit für eine Ergänzung. Nebenbei: Polizeiruf 110 wird dem Tatort gleichgestellt.
Den kürzesten Beitrag zu dieser Sammlung hat das neue Dresdner Team (Lessing / Dorn) geleistet: das a capella vorgetragene Doldinger-Intro zum Tatort dauert nach kurzer Diskussion etwa 7 Sekunden. Da wird es noch hektischer als in echt, wenn der Flaschenöfffner noch gesucht werden muss oder jemand gerade jetzt die Diskussion anfängt: darf bei der derzeitigen Weltlage und bei diesem Wetter und überhaupt Tatort noch geguckt werden? Schnauze! Ja! Ruhe jetzt!
Nora Tschirner (Kira Dorn) hat Banderfahrung; von 2012-2015 war sie Mitglied der Gruppe „Prag“, die stilistisch an Element of Crime erinnert – und ohne die Strenge und Dominanz transportierende männliche Stimme vielleicht sogar an Julee Cruise. Mut und Eigenständigkeit wünscht man ihr auch im Tatort Weimar, dessen Debut ganz witzig war. Für das in Tübingen kursierende Gerücht, Nora Tschirner sei auch bei Konzerten der Randgruppen-Combo zur Erinnerung an den DDR-Liedermacher und Baggerführer Gundermann dabei gewesen, konnte ich keine Belege finden.
Carlo Menzinger (Michael Fitz) brauchte 17 Jahre und eine Erbschaft, um sich von den mobbenden Kollegen Ivo Batic (Miroslav Nehmet) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) zu befreien. Fitz und Nemec treten häufig als Sänger / Musiker auf, Wachtveitl durfte beim Presseball mal mitsingen.
Matthias Brandt (Hanns van Meuffels), der nur noch wenige Male im Polizeiruf 110 dabei sein wird, hat ein kleines Buch über seine Kindheitserinnerungen geschrieben: zurückhaltend, das politische Geschehen in Bonn aus Kindersicht schildernd, ironisch und mit Sinn für Magie, etwa wenn es darum geht, einen angezündelten Vorhang zu beschwören. Aber es geht ja um Musik: die liefert der Musiker Jens Thomas mit seinen ergänzenden Erinnerungen auf der CD „Memoryboy“. Bei 2 Liedern singt Matthias Brandt mit.
Die Berufung von Meret Becker zur Tatort-Kommissarin Nina Rubin in Berlin gehört sicher zu den besseren Personalentscheidungen der ARD, zumal Meret Becker den neuen Job ernst zu nehmen scheint und die in ihren früher eher hingehauchten Liedern präsentierte Kindlichkeit überwindet. Auch die Stimme ist größer und erwachsener geworden, wie etwa bei Leonhard Cohens Seniorenhymne Dance me to the end of love eindrücklich zu hören.
Das Video mit Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) ist höchst dramatisch – fast ein kleiner Tatort für sich. Bei einer Observation vertreiben sich die beiden die Zeit damit, ein Lied von den Sportfreunden Stiller zu singen, und zwar die Rap-Romanze „Es muss was Wunderbares sein, von mir geliebt zu werden“ (wobei die Sportfreunde, vom dir zu mir, einen wichtigen Konsonanten des Originals verändert haben.) Dann geht es actionmäßig wild zu im Weißen Rössl am Wolfgangsee; er liegt im Sterben, sie wird hysterisch, man weiß nicht, was schlimmer ist.
Ernst Bienzle (Dietz-Werner Steck) gehört zu den Schwaben, die zum Lachen in den Keller gehen und dann Ärger mit dem Hausbesitzer bekommen wegen der Treppenabnutzung (Original-Tatort-Thema). Umso mehr ist man überrascht, wenn Bienzle in der Stuttgarter Markthalle plötzlich zu singen beginnt:
„Solang ich leb auf Erden,
sollst du mein Trimpele-Trampele sein,
und wenn ich einst gestorben bin,
dann trampelst hinterdrein.
Fiderullarulla rulla la la la.“(5.Strophe des Liedes „Wohlan, die Zeit ist kommen“; aus: Des Knaben Wunderhorn)
Auch wenn der Zusammenhang mit der Festnahme eines offensichtlich behinderten jungen Mannes seltsam anmutet, so ist und bleibt das Lied ein Kleinödle deutscher Dichtkunst.
Mehr lieben wir freilich Ringelnatz – nur nicht, wenn jemand seine Gedichte so distanziert, fast gelangweilt vorträgt wie Devid Striesow (Jens Stellbrink) dasjenige mit dem Titel „Der Briefmark“:
„Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte … .“
Ringelnatz wäre dagegen was für Marie Gruber (Rosamunde Weigand, Kriminaltechnikerin), die seit einigen Jahren im Ensemble „Bukowski Waits For You“ mitwirkt und auf Berlinerisch Texte dieser beiden und von Knef, Lindenberg u.a. vorträgt.
Wer nach all den prominenten singenden Kommissaren des gehobenen Dienstes zwei uniformierte singende Streifenpolizisten begleiten möchte, der ist mit diesem Video gut bedient: „Atemlos durch die Nacht“ aus dem Polizeifunk.
Das ist auch die Überleitung zum letzten Tip: im Til-Schweiger-(Nick Tschiller-)Tatort „Der große Schmerz“ wechselt Helene Fischer die Genres andersrum vom Gesang zur Schauspielerei. Dunkel gekleidet und mit schwarzen Haaren ist sie nicht gleich zu erkennen: sie entführt Frau und Tochter von Nick Tschiller, darf sich dabei ein bißchen prügeln und gehört eindeutig zu den Bösen – oder nicht?
Ein kleiner Nachtrag: nicht alle musikalischen Kommissare singen. Maximilian Brückner (Franz Kappl) spielt Tuba.