Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2017 18 Jun

Gregor öffnet seinen Plattenschrank (140)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 2 Comments

479 Seiten hat das Buch, es ist kein Roman, kein Kriminalroman, keine Biographie, am ehesten vielleicht noch so etwas wie ein Tagebuch. Eigentlich geht es um ein Musikstück, um Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll, op 23, einem Klavierstück, das gemeinhin als eines der am schwierigsten zu spielenden Klavierwerke überhaupt gilt. Der Chefredakteur des britischen Guardian, Alan Rusbridger, Amateurpianist, hatte sich für die Jahre 2010, 2011 vorgenommen, besagte Ballade zu erlernen. Um den Lernweg geht es in diesem unglaublichen Buch. Es erschien unter dem Titel Play It Again – Ein Jahr zwischen Noten und Nachrichten (Zürich 2015). Nun waren die Jahre 2010/2011 für den Guardian aufregende Jahre, die WikiLeaks-Dokumente wurden veröffentlicht, außerdem wurden die Abhörskandale der britischen Presse (verquickt mit Polizei und Geheimdienste) aufgedeckt und veröffentlicht, was zur Einstellung der News of the Wolrd führte. Wie kann der Hauptverantwortliche dieser Zeitung Zeit und Muße, Kraft und Energie aufbringen dann auch noch so nebenbei dieses schwierige Musikstück zu üben und zu einer gewissen Vorführbarkeit zu bringen? Das ist eines der Themen dieses Buches, ein anderes die Arbeit eines Zeitungschefs in solch einer turbulenten Zeit, ein drittes, wie sich beides gegenseitig bedingt, ein viertes das Kennenlernen dieser Ballade in allen Einzelheiten u.v.a. mehr. Nebenbei werden aber auch Gespräche über die Ballade mit Pianisten, z.B. Alfred Brendel, Murray Perahia oder Daniel Barenboim wiedergegeben. Und der Leser lernt ungeheuer viel über Musik und die Wirkung, die Musik auf uns Menschen ausübt. Zur Erinnerung, hier geht es um ein Musikstück das spätestens mit Roman Polanskis Film Der Pianist einem größerem Hörerkreis bekannt gemacht wurde. Alan Rusbridger erzählt in diesem Buch die Geschichte eines Amateurpianisten, Gary, dessen Leben sich durch das Hören der Ballade in besagtem Film und die Beschäftigung damit total verändert hat, Gary: „Für mich erzählt Chopin mit dieser ersten Ballade, was er im Leben durchgemacht hat. Er komponierte sie mit Anfang zwanzig und er war, wie viele große Geister, depressiv, suchte nach Glück, und die Ballade, wie du weißt, beginnt zunächst sehr düster, dann versucht er, sich davon zu befreien, und dann geht er zurück in die Depression, in eben dasselbe Thema, nicht wahr? Er schreit nach Glück! Und dann, gegen Ende, heißt es schon fast: `Ich werde mich vom Leben nicht unterkriegen lassen.´ Es geht bravourös über in die Coda, und zum Schluss heißt es: `Ich werde siegen!´ Später erzählt Rusbridger, dass Gary durch dieses zehnminütige Musikstück zurück ins Leben gefunden hat.

 
 
 

 
 
 

Daniel Barenboim äußert in einem Gespräch mit dem Guardianchef, ein großer Wert der Musik liege darin, dass sie uns Werkzeuge an die Hand gebe, uns selber besser zu verstehen, die menschliche Existenz, die Gesellschaft, unsere Lebensweise, den Sinn des Lebens und so weiter. Musik lehre uns, dass es nichts gebe, was der menschlichen Existenz fremd sei …

Über ein Gespräch mit dem Pianisten Murray Perahia erfährt der Autor, dass er als erstes die Gefühlsbotschaft eines Musikstückes verstehen möchte, sie beeinflusse den angestrebten Klang und die grundsätzliche Art, wie man ein Stück spielen sollte. Er verwende oft eine Geschichte, eine Metapher, um zu verstehen, was in den Noten vorgehe. Auch für die Ballade hat Murray eine Geschichte parat (siehe S. 217 ff).

Apropos Geschichte: Alan erzählt die Geschichte, als sich eines Tages die Gruppe Radiohead beim Guardian meldet, sie wolle eine Zeitung herausgeben und die Onlinechefin der Zeitung mit der genialen Idee gekontert habe, ein paar musikalisch begabte Journalisten des Guardian sollten eine Cover-Version des Radiohead-Klassikers “Creep“ einspielen, was auch geschah. Colin Greenwood soll ein äußerst witziges, hinterhältiges Lob auf der Website der Zeitung hinterlassen haben.

In der Mitte des Buches erklärt der Autor auch den Titel des Buches Play it again: „Abgesehen davon, dass ich morgen vielleicht in Casablanca an einem alten Klavier sitze (Alan Rusbridger war unterwegs nach Tripolis, um einen gefangen gehaltenen Journalisten zu befreien), hat der Titel zwei Bedeutungen. Erstens: dass man als Erwachsener zum Klavierspielen zurückfinden kann. Zweitens: dass man nur durch endloses Wiederholen besser wird. Der Journalist in mir erwärmt sich außerdem dafür, dass dieses Zitat verfälscht ist. Bogart hat das so nie gesagt.

Ein wunderbares Buch. Unbedingt zu empfehlen.

P.S. In meinem Plattenschrank befindet sich die Einspielung von Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll, op 23 durch Maurizio Pollini (Doppel CD: Art of Chopin: Sviatoslav Richter u.v.a.)

 
 
 

 

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2 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Interessant, sehr interessant. Wenn man noch Chopin mag, und Klavier spielt, fast ein Muss. Ein garantiert Chopin-freies Päckchen mit drei tollen Hubros geht in Kürze nach Jukebox Town, freu dich!

  2. Martina Weber:

    Super, dass du das Buch hier nochmal vorstellst, Gregor, du hast es uns ja in Münster gezeigt und davon geschwärmt. Inzwischen ist mir auch wieder eingefallen, dass mir vor einigen Monaten ein Pianist das Buch empfohlen hat, der Jazz improvisiert, und schon beim ersten Ton, den er anschlägt, bist du dabei. Er war Professor an einer FH, hat immer Klavier gespielt, hing seinen Job, den er auch sehr mochte, vor dem Rentenalter an den Nagel und spielt jetzt nur noch Klavier. Amateur oder Profi? Der Pianist fasste das Buch so zusammen, dass der Beitrag des Individuums zur Menschheitserhaltung irgendwann abgeschlossen sei, meist im Alter von 40 bis 50 Jahren, und dann sei die Zeit gekommen, andere Facetten des Menschseins auszuleben. In dem Buch wird ja auch C.G. Jung zitiert, es hat etwas Journalistisches, wie es geschrieben ist. Ich habe im Internet hineingelesen, und es gab einen großen Teil des Anfangs davon zu lesen. Es entfaltet einen schnellen Sog.

    Das Thema ist sehr spannend und wichtig und aus meiner Sicht nicht nur für Klavierspieler oder Chopinbegeisterte, sondern es stellen sich Fragen, die gesellschaftlich und auch individuell geradezu brisant sind, wenn man sie auch auf andere Kunstsparten ausdehnt. Wie ist eine künstlerische Entwicklung oder Entfaltung möglich für Menschen, die einen normalen Job haben? Zwanzig Minuten sind eine Zeitspanne, die wirklich jeder pro Tag aufbringen kann. Reicht das aus? Gibt es eine Art Zauberformel? Der Gedanke, erst die Gefühlsbotschaft eines Stückes zu verstehen, ist sicherlich hilfreich und wer in das Buch hineingelesen hat, weiß, dass es hier um sehr differenzierte Gefühlsnuancen geht, die Takt für Takt und Ton für Ton entwickelt werden.

    Kunst als Transformation.


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