„I understood you’ve been running from the man
That goes by the name of the sandman …“(America / CSN & Y)
Er hat’s mal wieder getan – Brian Eno sagte über sie:“ She is the biggest thing since Patti Smith“. Anna Calvi, von dieser britischen Singsongwriterin ist die Rede, hat für Robert Wilson, dem aufregenden Theatermacher aus Texas, die Songs für sein neues Stück „Der Sandmann“ komponiert. Ich habe es gestern Abend gesehen.
Das Musical begann mit einem ohrenbetäubenden Paukenschlag, der die älteren Gäste im Schauspielhaus zurück ins lebendigere Leben katapultiert haben dürfte. Nathanael, der in seinem anderen Leben Christian Friedel heisst und Leadsänger und Komponist ist, donnerte mit einer voluminösen Jim Morrison Stimme los: „There will be a Horror.“ Einige Zuschauer rutschten tiefer in den Plüsch.
Der Sandmann ist bekanntlich eine Horrorerzählung von E.T.A. Hoffmann. Der kleine Nathanael erfährt, wie so mancher von uns, schlimmste schwarze Pädagogik. „Wenn du jetzt nicht ins Bett gehst, kommt der Sandmann und reisst dir die Augen aus.“ Die Augen sind das Hauptmotiv in dem Musical. Der Augenhändler wirft Nathanael immer mehr in eine Hilflosigkeit, die am Ende zu seiner vollkommenen Wahnsinnigkeit führt. Rührend die Mutterglucke, die ihren Sohn mit dem zu Herzen gehenden Lullaby von Anna Calvi wieder herstellen will:
SUNDAY LIGHT
Boy in amber on the stairs
Sunday light through his hair
Casts a shadow on the wall
Deep and dark
Der kleine Struwwelpeter kommt nicht zur Ruhe, er hört Stimmen, die durch den Einsatz der Musik hervorragend zum Ausdruck kommen:
SURRENDER
We swim under the stars
All the secrets that lie under the dark
Der Sandmann singt dagegen verführerisch:
Sleep on,
You bring the sugar, and
I’ll bring the leather
Robert Wilson verlangt von seinen multitalentierten Schauspielern viel. Alle bewegen sich wie im Puppenspiel, alle werden pretentiös von einer fantastischen Lightshow angestrahlt. Das Bühnenstandbild ist meist entlehnt aus der modernen Kunst: Das graue Wolkenbild von G. Richter, die lineare Form von Mondrian. Einen verübten Mord stellt Wilson lediglich mit einer kleinen blutroten Hand dar oder lässt den blassen Mond schauerlich rot werden. Die Lichtchoreografie ist wirklich eine Wucht. Ebenso der geniale Einfall, die Trennung von Nathanael von seiner Clara mit dem für sich sprechenden Song einzuleiten: I See A Death In Your Eyes. Gänsehaut. Als Nathanael herausfindet, dass seine Angehimmelte lediglich eine aufziehbare Puppe ist, verfällt er vollkommen dem Wahnsinn. Er singt zusammen mit seinem Schwager:
I WHIP THE NIGHT
… I feel alone and in the dark you should have known it
That the lion bites the lion
With your pseudo liberation of a pseudo libido
Ein riesiger Zahnbohrer erscheint als Bühnenbild, man erleidet körperlich die Bohrangst und nur bei klarem Verstand Verbliebene können erahnen, welch Tortur Schizophrene durchmachen, wenn sie von Stimmen bedrängt werden. Sehr eindringlich miterlebt in dem Song: THE HURRICANE, THE HURRICANE, THE HURRICANE, THE HURRICANE.
Anscheinend wollte Bob Wilson das Publikum nicht mit diesem donnernd düsteren Powersong entlassen. Noch einmal versammelt sich die ausgezeichnete Schauspieltruppe zum gemeinsamen weicheren Gesang: YOU WANT A PIECE OF HISTORY / WELL, COME AND KISS ME …
Wer die Möglichkeit hat, das Musical zu sehen, hat das Vergnügen, neben E.T.A. Hoffmann, Lotte Reiniger, Sigmund Freud, John Cage, Ezra Pound, Andy Warhol und Buster Keaton zu sitzen.