Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

… und bringt bitte einen Text mit, der euch sehr gut gefällt, den ihr aber nicht selbst geschrieben habt, Genre egal, maximal eine Seite, bitte für alle kopieren und ein paar Argumente überlegen, die aus eurer Sicht für die Qualität des Textes sprechen …

 

D. hatte einen schmalen Erzählungsband von Denis Johnson dabei: Jesus´ Sohn. Er fing einfach an zu lesen und es war gleichgültig, dass wir weder den Zusammenhang noch den Titel der Geschichte kannten. Er begann so: „Kurz darauf standen Autoschlangen auf beiden Seiten der Brücke, Scheinwerferlicht schuf um den dampfenden Schrotthaufen eine Stimmung wie bei einem nächtlichen Fußballspiel, und Kranken- und Polizeiwagen bahnten sich zögernd ihren Weg, so dass die Luft farbig zuckte.“ Ein paar Absätze später folgte eine Passage, die die Stimmung im Raum veränderte.

 

„Dann kam die Frau den Gang hinunter. Sie war eine Pracht – sie glühte. Sie wusste noch nicht, dass Ihr Mann tot war. Wir wussten es. Das gab ihr diese Macht über uns. Der Doktor bat sie in ein Zimmer mit einem Schreibtisch am Ende des Ganges, und unter der geschlossenen Tür strömte ein strahlend heller Glanz hervor, als würden dort drinnen in einem phantastischen Verfahren Diamanten zu Asche verbrannt. Was für Lungen! Sie schrie schrill auf, so wie, vermute ich mal, ein Adler aufschreit. Es war ein wunderbares Gefühl, am Leben zu sein und das zu hören! Überall habe ich seither dieses Gefühl gesucht.“

 

Während D. darüber sprach, was ihn an Denis Johnson faszinierte und welches seine Lieblingsbücher waren, klebten meine Augen auf dem Satz: „Das gab ihr diese Macht über uns.“ Worin liegt die Macht einer Frau, die in der Illusion lebt, ihr Mann würde leben? Sie lebt in der Gewissheit, dass ihre Liebe existiert. Dies ist ihre Wahrheit und eine Erfahrung, die in ihrem Körper gespeichert ist. Es ist ihre Kraftquelle, der sich die anderen nicht entziehen können. Darin liegt ihre Macht. Die Nachricht des Arztes verändert ihren Körper, die Konfrontation mit der Wirklichkeit zerstört die Frau. Und welches Gefühl sucht der Erzähler, vergeblich? Die Lebendigkeit. [Heute mal große Worte, Guerrilleros, der Mond irgendwo über dem Lagerfeuer.]

This entry was posted on Donnerstag, 23. Februar 2017 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

5 Comments

  1. Martina Weber:

    Das Zitat stammt aus der Erzählung „Zusammenstoß beim Trampen“.

  2. Lajla:

    Ich habe einen Text von Bachtin mitgebracht:

    „Dort – auf dem Karnevalsplatz – herrschte eine besondere Form des freien, intim familiären Kontakts zwischen Menschen, die im gewöhnlichen Leben jenseits des Karnevals durch die unüberwindbaren Schranken ihres Standes, ihres Vermögens, ihres Berufes, ihrer Familie und ihres Alters getrennt sind.“

    Denn egal wie gut eine Gesellschaft lebt, wie stark eine Gesellschaft auf festen Füßen steht, immer braucht es dennoch dieses Aufflackern einer größeren Freiheit und von etwas, das die Einwohner sogar von den bestmöglichen Gesetzen befreit. Da ist diese ätzende, diese dadaistische Freiheit nötig, dieser Geist uneingeschränkter Freiheit aus Alfred Jarrys Theaterstück König Ubu.

  3. Martina Weber:

    Ah, ein Text passend zur Jahreszeit :)

  4. Uli Koch:

    Denis Johnson zelebriert diese Geschichten als einzigen Opiatrausch, wo Bedeutungen wie Farben erstrahlen und dennoch bei aller scheinbaren Dramatik seltsam leer bleiben.

    Jesus‘ Son ist ein wunderbarer Plot für Realitätsflüchtlinge, die ihre persönlichen Gefährder liebevoll auf den Schoß nehmen und sich von einem Fremden im Vollrausch einen bislang unbekannten Highway in Höchstgeschwindigkeit chauffieren lassen.

    Das Beste seitdem der gute alte William S. Burroughs den Taktstock eine Etage weiter oben schwingt. Und doch: was war da grad noch einmal …

  5. Martina Weber:

    Klingt ziemlich gut, Uli. Ich habe das Buch inzwischen gekauft und schon ein paar Storys gelesen. Was du schreibst, trifft es genau. Ich habe hier auch einen Roman von Denis Johnson: Ein gerader Rauch. Er spielt in einem Kriegsgebiet.


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