Da schien noch ein richtiger Mond in der Nacht, die Musik ha’m wir noch mit der Hand gemacht. Und überall verkleisterte die Teldec ihre „Top Scene Hamburg“-Aufkleber. Michaels Schockerlebnis im Hamburger „Remter“, einem Jazzclub im Keller der Handwerkskammer, mit Doof-Dixie und Bierseligkeit, während der große Jarrett im CCH konzertiert und einem Katrin durch den Kopf geistert — ja, ich kann es nachvollziehen. Das „Remter“ (abgeleitet von lat. refektorium = klösterlicher Speisesaal) war, wenn ich nicht irre, einer von Hamburgs ältesten Jazzclubs überhaupt, obwohl sich um diesen Titel immer auch der „Cotton Club“ am Alten Steinweg, die „Riverkasematten“ direkt am Elbufer und das „Barett“ irgendwo in Dammtornähe stritten. Letzterer Laden dürfte gewonnen haben, zumindest als Musiklokal — schon in den dreißiger Jahren hatte dort „Meister Kück an zwei Klavieren“ gespielt. Also wenn das keine Tradition ist!
„Jazz“ in Hamburg hat immer die Pflege des Althergebrachten bedeutet. Damit hatte man sich abzufinden. Das „Birdland“ in der Gärtnerstraße, wo auch anderes möglich wurde, lag noch in weiter Ferne, und die Hamburger Jazzbands waren durchweg pflegeleicht und konnten alles, von der Jazzband-Battle im Schauspielhaus bis zur Möbelhauseröffnung Montag morgen um zehn. Die Jazzkneipen hatten den typischen 70er-Charme; der Wirt der „Riverkasematten“ war es schon gewohnt, dass regelmäßig im Frühling ihm der Fluss einen Besuch abstattete und der Laden dann wochenlang durchfeuchtet roch, im „Cotton Club“ dauerten Sessions manchmal bis in den Morgen, die Musiker schliefen dann auch gern mal dort und wurden morgens vom Wirt mit Schlehengeist geweckt. Vom Pö gar nicht zu reden.
Wenn man allerdings den traditionellen Jazz mal für fünf Minuten ernst nimmt und sich die damalige Hamburger Szene etwas genauer ansieht, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass die so einseitig und langweilig gar nicht war. Der Kornettist Albrecht „Abbi“ Hübner etwa, Polizeiarzt im bürgerlichen Beruf („Bullendoktor“, wie er sich vorzustellen pflegte), hatte mit seinen Low Down Wizards eine Band zusammengestellt, die auf den klassischen New-Orleans-Stil etwa eines King Oliver spezialisiert war, und wenn sie Nummern wie „Everybody Loves My Baby“ oder den „Basin Street Blues“ spielten, dann klangen die meisten „originalen“ Bands aus New Orleans blass dagegen. Wer’s nicht glaubt, höre sich das Doppelalbum City Jazz von 1974 an. (Abbi Hübner’s Low Down Wizards sind heute Ehrenbürger von New Orleans, mit Recht. Leider hat die Band später dann auch deutsche Volkslieder „verjazzt“, wie man das damals nannte.)
Einige der Hamburger Bands hatten exzellente Instrumentalisten an Bord, Peter „Banjo“ Meyer von den Jazz Lips sei genannt, Michael „Ede“ Wolff mit dem Sousaphon, der Drummer Thomas Danneberg, der ohne Hi-Hat, aber mit einer riesigen Bassdrum und diversen hölzernen Klanggeräten meisterlich den Drumstil der frühen 20er Jahre beherrschte, der Klarinettist Günther Liebetruth, dessen Improvisationen oft an einen Schlangenbeschwörer denken ließen. Gottfried Böttger, der virtuose Ragtimepianist, den ich noch bei Kneipenauftritten erlebt habe, Lorenz „Lonzo“ Westphal, der nicht weniger virtuose Geiger, der später nach einem schweren Unfall zum Alkoholiker wurde und inzwischen nicht mehr lebt. Ingeburg Thomsen, eine Sängerin, bei der man sich stets fragte, wo dieser kleine Körper solch eine Stimme hernehmen konnte (sie tauchte später in verschiedenen Filmen Horst Königsteins auf, und ich glaube auch in der Gruppe Leinemann). Es gab ein Doppelalbum namens Hamburg Allstars, 1974 auf dem Brunswick-Label erschienen, auf dem die fast alle zusammen spielen. Ein echtes Schätzchen.
Hübner, die Jailhouse Jazzmen, die Jazz Lips, Brunos Salon Band, die Blackbirds of Paradise, St. John’s Jazzband, das Ballroom Orchestra, die Revival Jazzband: sie deckten die Palette zwischen Straßenjazz und den Swingorchestern in den Tanzsälen der Edelhotels ab. Bei allem Unernst, der den meisten dieser Bands zu eigen war, wussten sie doch sehr genau, was sie spielten und in welcher Tradition sie standen. Auf dem Doppelalbum Hamburger Jazz-Scene, bei Metronome veröffentlicht, sind die besten dieser Bands mit Aufnahmen zwischen 1969 und 1972 versammelt. Gelegentlich gab es dann auch mal Ausflüge in angrenzende Nebenschauplätze, etwa Meyers Dampfkapelle, die sogar einen echten Hit hatten: „Ich mag so gern am Fließband steh’n“, getextet und gesungen von dem „Lästerlyriker“ Hans Scheibner. Es gibt nicht viele Gedichte, die ich auswendig kann. Zwei davon immerhin sind von ihm.
Und es gab, man glaubt es nicht, auch experimentierfreudige Jazzer. Die Travelin‘ Jazzmen etwa traten zeitweise mit einem versierten langhaarigen Rockdrummer und einem aus Brasilien stammenden Bassgitarristen auf, die jeden Donnerstag den Cotton Club in Vibration versetzten. Deren Boss, der Trompeter Günter Heide, im Brotberuf Lesezirkelbote, hatte bei irgendeiner Gelegenheit die Lightshow gesehen, in der ich damals mitmachte („Waves“ hieß die, war spezialisiert auf Clubs und Jugendzentren), und irgendetwas ritt ihn, uns zu fragen, ob wir das nicht auch am nächsten Mittwoch in der „Seglerbörse“ (einem Jazzclub am Blankeneser Elbufer, eigentlich eine bessere Bretterbude) mit seinen Travelin‘ Jazzmen probieren wollten. Wir hätten das ja glatt gemacht. Leider wollte dann der Wirt der Seglerbörse nicht. Buntes Flackerlicht, psychedelische Dias, Schaum- und zerfließende Ölprojektionen zur „Bourbon Street Parade“, dem „Washboard Wiggle“ oder Günters Signature Tune „Sheik of Araby“ — um so eine Gelegenheit hätte uns bestimmt sogar die ehrwürdige Joshua Lightshow aus San Francisco beneidet.