Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2017 11 Feb

Handschriften deuten

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Comments off

Es ist einige Tage her, als ich eine Postsendung erhielt, auf der meine Adresse in Handschrift notiert war. Ein schwungvolles, sympathisches Schriftbild, mittelgroß, blauer Kugelschreiber, gut lesbar. Ich entdeckte über der handschriftlichen Adresse ein Feld, auf der meine Adresse in Druckbuchstaben klebte. Offensichtlich wollte die Postverteilungsstelle ihren Postboten nicht zumuten, eine handschriftlich geschriebene Adresse zu entziffern. So etwas sah ich zum ersten Mal. Das Verschwinden der eigenen Handschrift im Alltag hat logischerweise die Konsequenz, dass die Fähigkeit und auch die Bereitschaft, Handschriften anderer zu entziffern, schwindet. Das ist nicht nur ein kultureller, sondern auch menschlich grundlegender Verlust, es geht um die Wurzeln, um die Verbindung zu etwas Innerem, denn das Schreiben von Hand ist tief mit unserer Persönlichkeit verknüpft. Ich war ungefähr 16, als ich – ich weiß nicht mehr wie – an ein Buch mit dem Titel „Handschriften deuten“ geriet. Es ging darum, ein Gespür für Handschriften zu schulen, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Autors zu trainieren, angefangen von der Art und Weise, wie der Raum auf einer Seite Papier genutzt wurde, über den Gesamteindruck des Schriftbildes zur Interpretation der Art und Weise, wie einzelne Buchstaben geschrieben wurden. Ich verbreitete mein neues Wissen schnell in der Schule, was dazu führte, dass wir, wenn jemand etwas an die Tafel schrieb, uns gegenseitig Kommentare zuraunten, etwa der Art, schau dir mal das „g“ an. (Im Buchstaben „g“ zeigt sich alles über die Sexualität.) Ich begann natürlich auch damit, meine eigene Handschrift kritisch zu betrachten und überlegte, ob – umgekehrt – die bewusste Veränderung meiner Handschrift auch zu einer Veränderung meiner Persönlichkeit führen könnte. Ich erkannte alle meine Freundinnen an ihrer Handschrift und ich liebte die Handschriften meiner Freunde. Ich ahmte die Lässigkeit in deren Schriftbild nach, experimentierte mit kleinen Veränderungen. Während meiner Studienzeit verbreiteten sich PCs, ich stieg relativ spät darauf ein, war dann aber – typisch für mich – völlig begeistert davon, wie leicht es plötzlich war, Hausarbeiten nicht mehr handschriftlich mühsam und mit zahlreichen Ergänzungen vorschreiben und mit der Schreibmaschine abtippen zu müssen, sondern die Texte beim Schreiben sich entwickeln zu lassen und gleich oder auch noch später, vor Abgabeschluss, korrigieren zu können. Mittlerweise kenne ich kaum noch die Handschriften neuer Bekanntschaften oder Freunde. Manchmal bin ich auch skeptisch, ob andere meine Handschrift entziffern können, und beim Schreiben von Zahlen bin ich sehr genau, wenn andere sie lesen sollen. Es war noch tief im vergangenen Jahrtausend, als ich einen Liebesbrief schrieb, der allerdings einige Tage später wieder in meinem Briefkasten landete. Die Postleitzahl des Adressaten war unterstrichen, daneben ein Fragezeichen. Die Mitarbeiter der Post hatten meine handschriftlich geschriebene Postleitzahl nicht lesen können. Ich war wirklich baff, ließ den Brief ein paar Tage in einer Schublade verschwinden, und warf ihn in den Müll.

This entry was posted on Samstag, 11. Februar 2017 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

Sorry, the comment form is closed at this time.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz