Manafonistas

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Archives: Januar 2017

2017 20 Jan

W. O.

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William Onyeabor ist nun auch nicht mehr da, ich habe heute ein Lied von ihm gehört, mindestens ein halbes Dutzend mal, aus Nigeria, und es klang fast wie eins von den Talking Heads. In diesem Lied, Musik zu einem Film, den keiner je gefunden hat, kamen recht seltsame Zeilen vor, für eine Geschichte mit einer afrikanischen Prinzessin, die sich profaner Käuflichkeit verweigert. William Onyeabor war nie so radikal wie Fela Kuti, auch er sog vieles auf, was nach Afrika drang, Funk, Reggae, natürlich auch den Griot im alten Dorf. Einer der ersten Musiker seines Kontinents, der mit Synthesizern arbeitete, die allesamt beschädigt wirkten. Manchmal nach Kirmes klangen, an der Oberfläche, aber es waren, nicht allzu selten, Killergrooves.

 

Emergency unlocking. Wenn Dir Standart nicht genug ist. Entferne das ganze Gelee. Das bringt Dich weiter. Das ist Dein Moment (Du schaust, Du spürst, Du genießt) to make your body change. Ein Sixpack in zehn Wochen. Im Supermarkt geht das schneller. Beide Scheiben einschlagen. Sonst nimm die Hilfe Deiner personalisierten Nuss-Nougatcreme in Anspruch. Entdecke zu Hause die Welt. Schmeckst Du den Unterschied? Where to find hypergrowth. Smash both window panes and force out upper corner. Alle 11 Minuten. Du kannst sie nicht alle töten. Moment mal: Bin ich unsterblich? Das musst Du einfach haben – überall, jederzeit, bargeldlos. Final call for the next appointment? Die Frau mit dem orangenen Trolley. Wir wissen nicht was die Zukunft bringt. Ich bin gerne unsichtbar. Missbrauch strafbar. Dein Traum, Deine Erinnerung. Du willst mehr für weniger? Kannst Du haben. Ein neuer Anfang auf konsequente Weise. Um etablierte Grenzen aufzuheben und neue Ausdrucksformen zu schaffen. Mehr als Du wissen musst. Have a nice day!

 

(Bitte bewerten Sie Ihre heutige Fahrt).

 
 
 

 
 

… The less we say about it the better
Make it up as we go along
Feet on the ground, head in the sky
It’s okay, I know nothing’s wrong, nothing

I can’t tell one from the other
I find you, or you find me?
There was a time before we were born
If someone asks, this is where I’ll be, where I’ll be

Eyes that light up
Eyes look through you
Cover up the blank spots
Hit me on the head

 
(This Must Be The Place – Talking Heads)

Café Frida (Bremen, Frida wie Kahlo) und Bagels & Beans, Aachen, sind die Schauplätze eines Kaffeehausgespräches der Manafonisten Ingo J. Biermann und Michael Engelbrecht. Mails wandern hin und her. Es geht um drei jüngst erschienene Aufnahmen, von A Winged Victory for the Sullen, The XX, und The Flaming Lips. Alben, welche allesamt die Fähigkeit besitzen, unter Oberflächen zu dringen. Man hat The XX schon in Modeboutiquen gehört, aber John Coltrane auch in Fahrstühlen – so what? Ein beherztes Plaudern, etwas Koffein, ein paar Abschweifungen – you’re welcome!

 
 

me: Ingo, kennst du eine Iris, persönlich? Ich nicht. Bei dem Namen stelle ich mir eine Frau vor, die Thomas Mann liest und sehr zartbesaitet ist. Lauter Klischees! A Winged Victory for the Sullen ist ein Duo mit Geschichte. Adam Bryanbaum Wiltzie ist eine Hälfte der Zeitlupenforscher von „Stars of the Lid“, Dustin O’Halloran ist der Pianist, der die wundervolle Titelmelodie für die Serie „Transparent“ komponierte. Nun also ein Soundtrackalbum, „Iris“. Ein 40-köpfiges Orchester aus Bukarest, lauter Streichinstrumente, ein Modularsynthesizer, und mehr. Ich kenne den französischen Thriller, der die Vorlage gab, nicht, aber wenn er so durchweg interessant wie die Musik der Beiden hier ist, bin ich gespannt.

 

ijb: Bei „Iris“ und „Film“ kam mir als erstes ein anderer, älterer Film namens „Iris“ in den Sinn. War der mit Judi Dench, oder verwechsle ich das jetzt? Auch der Freund, mit dem ich gerade in Bremen bin, zur Drehbucharbeit, dachte sofort an den Film. Der hatte, glaube ich, eine Musik von Philip Glass. Möglicherweise bringe ich hier aber auch was durcheinander. Iris lässt mich auch an das Auge denken… also Kino, Auge… mehr Visuelles als Musik… Den Film hier hab ich auch noch nicht gesehen, aber ich kenne und schätze den Regisseur, Jalil Lespert, bislang allerdings vor allem als Schauspieler. Etwa aus „Ressources Humaines“, dem tollen ersten Spielfilm von dem Regisseur, der später mit „Die Klasse“ („Entre les murs“) die Goldene Palme gewonnen hat, Laurent Cantet. Die beiden Winged-Victory-Leute kannte ich bisher nicht, erst Anfang Januar habe ich mir aber die „Salero“-CD von Wiltzie gekauft. Auch eine Filmmusik. Ein übrig gebliebener Tipp aus dem Jahr 2016…

 

me: Da ist mir wohl einiges entgangen. „Iris“ jedenfalls ist ein Soundtrack, bei dem ich keine Bilder vermisse. Und möglicherweise hat die Vorlage eines sicher alles andere als humorvollen Thrillers dazu beigetragen, das Duo aus der Zone des bloss „netten Experimentierens“ zu locken, wozu Pianisten gelegentlich neigen, die gerne melodisch und trickreich agieren, von O’Halloran bis Hauschka, oder dem mitterweile bei mir, nach den Vivaldi-Inventuren und „Sleep“-Banalitäten durchgefallenen Max Richter. „Iris“ aber schärft die Sinne.

 

ijb: Mir gefällt an dieser „Iris“-Musik vor allem der Einsatz der verschiedenen Synthesizer-Klänge. Hat mich sofort an die „Neon Demon“-Musik von Cliff Martinez erinnert. Vielleicht der gleiche Synthesizer. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass der Film ziemlich gut ist, weiß aber auch nichts drüber. Das Cover verspricht einiges, oder? Max Richter hat mich bis jetzt noch gar nicht überzeugt. Manche seiner Stücke sind ganz sympathisch, aber was ihn bei der Deutschen Grammophon so begehrt gemacht hat, kann ich nicht nachvollziehen. Da gibt’s so viele spannendere Komponisten aus dieser Ecke. Hast du gelesen, dass Laurie Anderson auf der neuen CD von The XX mitspielt? Bratsche, wenn ich recht erinnere.

 

2

 

me:  Ein „special guest“. „I See You“ ist das mittlerweile dritte Album des Londoner Trios. Ihr Debut hat über anderthalb Millionen Exemplare verkauft, und wurde in einer Garage aufgenommen. Der Grossstadtblues von Zwanzigjährigen interessiert mich nicht so sehr, aber dieses Trio hatte einen unerhörten Sound: schwarzer Bass, extrem zurückgenommener Gesang, aber auch ferne Echos der Young Marble Giants. „I See You“ ist opulenter, mehr Breitwand, mixt Neues dazu, ohne nun auf Stadion-Sound zu setzen. Berührt mich immer noch.

 

ijb: Beim ersten Album war ich anfangs auch noch distanziert, aus den gleichen Gründen, die du anführst, Befürchtung von spätpubertärer Poesiealbumsmusik, wurde dann aber schnell eines besseren belehrt. Mich hat immer sehr gewundert, dass viele Leute sagen, das zweite Album sei viel schlechter. Das ist doch genau das gleiche wie das erste, von Details abgesehen. Ich finde beide noch immer toll. Das dritte ist in meinen Augen näher am Clubsound, mehr Pop. Hat mich sofort begeistert. Würde sogar sagen: „Instant Classic“. Ja, muss man schauen, wie es sich entwickelt… ob ich das in einem halben Jahr immer noch denke … Aber „A Violent Noise“ und „On Hold“ sind echt großartige Popsongs.

 

me: Ich höre „I See You“ auch sehr gerne, ausgefeilt, aber nicht klinisch, und dann noch eine Bratsche von Laurie, ha! Ich mag es, wie die Band Zwischenzonen von Emotionen auslotet, die weit über „Boy Loves Girl & Loses Girl & umgekehrt“ hinausgehen. Eigentlich eine Schattenmusik, ich der ich die schwarzen Bässe sehr schätze, die Wechselgesänge sind auch alles andere als ein Abklatsch von Lee Hazelwood und Nancy Sinatra. Manche Momente gehen tief. Aber ganz teile ich deine Begeisterung (noch) nicht. Vielleicht ist mir die Fortschreibung ihres Sounds eine Spur zu clever. Mein Lieblingsalbum bleibt ihr zweites, „Coexist“. Aber auch auf „I See You“ vermeiden sie eine Falle sehr geschickt, den Bombast. Sie fetzen niemals ab.

 

ijb: Das stimmt. Guter Punkt. Trotzdem ist „I see you“ deutlich vielseitiger — oder vielleicht sollte ich eher sagen: heterogener als „Coexist“ und das Debüt. Das sage ich ohne Werturteil, meine es erst einmal rein objektiv. Freut mich zu hören, dass du „Coexist“ bisher am besten findest. Wie gesagt wundert mich, dass man total oft hört, es sei schwach. Was hören die Leute da wohl? Oder was hören sie nicht, um zu diesem Urteil zu kommen…? Ich habe irgendwo in einer Rezension gelesen, dass „Test me“, das letzte Stück der CD, mit Brian-Eno-mäßiger Suggestion begeistere. Was hältst du als Eno-Spezialist von dieser Beobachtung?

 

3

 

me: Davon halte ich erstmal nichts, weil ich das Stück nicht im Ohr habe. Ich bin schon froh, dass ich während unseres Gesprächs die totlangweilige Klassische Musik im Hintergrund weghalluzinieren kann. Ingo, wir besprechen hier, glaube ich, drei verdammt gute Alben, lass uns nachher noch einmal auf „Iris“ zurückkommen. Das neue Album der Flaming Lips, „Oczy Mlody“, wirkt erstmal so, vom Cover bis zu allen den schwirrenden Sounds, als würde die Band aus Oklahoma City eine neue synthetische Droge testen, und alle Psychedelik auf die Spitze treiben. Was da so alles an Weltraum und mythischen Tieren durch die Lieder geistert! Aber dann: hier gibt es mehr als Weltflucht, mehr als nur e i n e n  doppelten Boden …

 
 
 

 
 
 

ijb: Also erstmal, ja, ich bin totaler Fan von den Flaming Lips, gerade auch mit den ganzen Sachen, die nicht so genial sind. Schon deshalb, weil sie wie vielleicht keine andere Band sich keine Schranken im Kopf setzen und, so scheint mir, komplett fern von jeder Erwartungshaltung operieren. Als würden sie jedesmal ein verrücktes Debütalbum aufnehmen. Da fällt mir akut keine andere Band ein, die das so konsequent macht. Diese neue CD gefällt mir erst einmal besser als „The Terror“, aber als so extrem psychedelisch habe ich sie bisher nicht empfunden. Bei mir entstand eher der Eindruck, dass das Album homogener und dichter ist als „The Terror“, ein einheitlicheres Gesamtbild als alle CDs seit „Yoshimi“, mindestens. So von der Gesamtstimmung erinnert es mich auch sehr an „Yoshimi“. Ruhigere, melodischere Lieder wie „The Castle“ und „Sunrise (Eyes Of The Young)“ auch an die verträumten von „Soft Bulletin“. Also gar nicht so „far out“ eigentlich.

 

me: Hmm … Diese Band ist so lange im Geschäft, und hat ihre Widerständigkeit von Anfang an gewahrt, das ist unglaublich! Sicher ist dieses Album zugänglicher als „The Terror“ oder „Embryonic“, diese wunderbaren, dunklen Zumutungen, aber auch hier müssen sich die Ohren öffnen wie Scheunentore. Ich mag es, wie die Musik sich scheinbar zerfranst, verliert, auflöst, wieder und wieder, um dann von einem Puls, einem Rhythmus, von der hereinschallenden Stimme eines Reggie Watts, von einem fast krautrockigen Groove, „gerettet“ zu werden, Form gewinnt, Struktur, Spannung. Das passiert mt der ganzen Trickkiste psychedelischer Musik“, und spiegelt, wie grosse Fantasy es eben schafft, existenzielle und auch dunkelste politische Realitäten. ich liebe es, wie der Gesang von Wayne Coyne auftaucht, verschwindet, so dass man mitunter nur Textfragmente erhascht. “One Night While Hunting for Faeries and Witches and Wizards to Kill” heisst ein Song. Wo-bin-ich-Musik.

 

ijb: Ja, volle Zustimmung. Besser hätte ich es nicht beschreiben können. Auch einige Songtitel sind wie immer genial. Meine Lieblingsstücke: „There Should Be Unicorns“, „One Night While Hunting…“ und „Listening To The Frogs With Demon Eyes“. Also nicht wegen der Titel — oder nicht nur. Frösche und Dämonen gab’s bei den Flaming Lips ja schon öfter. Erinnerst du dich an dieses lustige Froschlied auf einem Album Anfang der Neunziger? „I’m looking at the sky, waiting for the rain, waiting for the frogs to fall down on me“. Ich habe gerade nur das Albumcover vor meinem inneren Auge, aber der Titel fällt mir nicht ein. Mein Lieblingsalbum der Band ist wahrscheinlich „Embryonic“, da mag ich den psychedelischen Wahnsinn und diese Krautrock-Exkurse sehr. Hier, auf dem neuen Album, sind die Elemente vielleicht überall viel fokussierter und bewusster eingesetzt, eigentlich weniger ausgefranst.

 

me: Weisst du, was Flaming Lips-Platten und ihre Konzerte mir bedeuten, Ingo? Laut gehört, nachts gehört, in Köln und London gehört? Karthasis, pure Karthasis. Absolute Lebendigkeit! Wayne Coyne ist ein Meister darin, das Tragsiche, Surreale, Wundervolle unseres Lebens auf diesem Planeten zu inszenieren, ohne die gesammelten Betroffenheitskulte von U2 bis sonstwohin. Wenn ich auf ihren Konzerten bin, durchschauert es mich immer wieder, den Körper rauf und runter, ohne dass ich was eingeschmissen habe. Deshalb freue ich mich auch riesig auf ihren Auftritt in „Huxleys Neuer Welt“ in Berlin. Aber noch mal zurück zu dem Soundtrack „Iris“. Da höre ich neben Anklängen an John Carpenter auch, und, das wird dich vielleicht überraschen, eine Spur von Eleni Karaindrou…

 

4

 

ijb: John Carpenter kann ich nachvollziehen, ja. Karaindrou: Hm, ja, überraschend. Aber dazu erzähle ich dir eine andere Assoziation: Ich wollte, dass mein Kind einen Namen bekommt, der bei mir keine Assoziationen zu nichts und niemandem weckt. Am Ende landeten wir bei Ida. Aus irgendeiner Laune heraus haben wir uns allerdings für einen zweiten Vornamen entschieden, obwohl wir beide keine Zweitnamen haben. Deshalb heißt sie nun mit zweitem Vornamen Eleni, wegen Eleni Karaindrou. Muss man also auch mit entsprechender kurzer Betonung auf der zweiten Silbe aussprechen. (Die meisten hier sagen ja „Eleeni“ statt „E-lenni“.) Als ich vor ein paar Jahren dann mal nach einem Konzert in Berlin, nur ein paar Straßen von unserer Wohnung entfernt, die Chance ergriff, mit Eleni Karaindrou (und Manfred Eicher) nach dem Auftritt in der Garderobe zu plaudern und eine Widmung in eine oder zwei ihrer CDs zu bekommen, erzählte ich ihr dies. Und sie war sehr gerührt und schrieb gleich einen kleinen „Brief“ in eines der CD-Booklets, an die ganze Familie gerichtet.

 

me: Schön. Bei „Iris“ gefällt mir, dass mich die Musik von Anfang bis Ende nicht loslässt. Das gelingt nicht mal Ennio Morricone auf seiner bepreisten Musik zum letzten Streich von Tarantino. „The Revenant“ hat das 2016 geschafft, Noto und Sakamoto. Der Griechin gelingt das unter anderem mit dem Wechselspiel, den Reibungen von Folkinstrumenten und Klassischem Instrumentarium, und keine zu grellen Crescendi. Da entwickelt sich ein vergleichbarer, leiser Sog, nur dass bei ihr, statt Elektronik, einzelne Folkinstrumente einen Kontrast bilden, wie „verlorene Gestalten in einsamer Landschaft“ wirken. Und diese Empfindung eines weiten Raumes erlebe ich bei A Winged Victory for the Sullen und bei Eleni Karaindrou. So gehört, könnte Iris auch die Musik für einen Science-Fiction-Film abgeben. Nichts Griechisches hier!

 

ijb: Ja, das ist wahr, gute Beschreibung. Vielleicht sollten wir das Gespräch fortsetzen, wenn wir den Film „Iris“ gesehen haben. Dann auch reflektieren, wie die Musik dann wirkt… Den Film „Iris“ mit Judi Dench habe ich übrigens nicht gesehen. Er erzählt die Geschichte der Schriftstellerin Iris Murdoch, ist aus dem Jahr 2001. Und der Film, den ich im Kopf hatte, mit der Musik von Philip Glass, heißt „Notes on a Scandal“. Toller Film – und einer von Philip Glass’ besseren Soundtracks der letzten 15 Jahre.

 


 
 
 

„Despite A Winged Victory for the Sullen being associated with film score type music, trying to survive the process of creating the modern film score is not for people with fragile egos. It requires those who are the most responsive to change. The director and the film presented a new set of challenges, so we decided to stop thinking about cinema as an object, and moved closer to using the film’s images as triggers for experiences. The more we were able to let go, and see the music as something that happens, like a process — not a quality, the more we were able to reach a place that sounded like us. It was as if we were making our first record all over again, except being filtered through another language littered with dead metaphors.“

(A Winged Victory for the Sullen)

 

Gespräch mit Angela Regius, einer der Organisatorinnen des Filmkreis Short an der TU Darmstadt über die Wirkung Eisenstein´scher Montagen und wie ein 120-Minuten Programm aus 26 Stunden Kurzfilmmaterial entsteht.

 

Martina: Kannst du dich daran erinnern, als du zum ersten Mal einen Kurzfilm gesehen hast, der dich richtig gepackt hat?

Angela: Es ist gar nicht einfach, Kurzfilme zu sehen zu bekommen, weil sie selten im Kino laufen, eher im Fernsehen, auf arte. Zum ersten Mal habe ich Kurzfilme vor einigen Jahren gesehen, bei uns im Unikino in Darmstadt. Der Studentische Filmkreis an der TU Darmstadt zeigt vor jedem Hauptfilm Kurzfilme. Ich erinnere mich an einen Kurzfilm ohne Worte, es ging um junge Leute, die in eine Wohnung eingebrochen sind, aber nicht, um etwas zu stehlen, sondern um Musik mit Alltagsgegenständen zu machen. Mir gefiel die Idee, und die Umsetzung.

Martina: Die Idee erinnert mich an den Film „Die fetten Jahre sind vorbei“, wo junge Weltverbesserer in Häuser wohlhabender Leute einbrechen und aus dem Designer-Mobiliar turmartige Gebilde bauen, um die Bewohner in einen Zustand der Unsicherheit zu versetzen… Und dann hast du dich mehr mit dem Kurzfilm beschäftigt…

Angela: Seit dem Jahr 2003 gibt es beim Studentischen Filmkreis an der TU Darmstadt einen Kurzfilmabend. Außerdem gibt es in jeder größeren Stadt Kurzfilmfestivals oder Festivals mit Kurzfilmprogramm, zum Beispiel ein Open Air Kurzfilmfestival in Darmstadt-Weiterstadt, in Frankfurt, in Wiesbaden. Diese Festivals finden nur einmal jährlich statt. Wer den Kurzfilm sucht und recherchiert, wird schnell fündig.

Martina: Schaust du auch Kurzfilme auf DVDs oder auf anderen Medien, im Internet zum Beispiel, auf youtube oder Vimeo?

Angela: Ich konzentriere mich auf die Festivals. Sie haben den Vorteil, dass ich dort Kontakt zu den Filmemachern bekomme und die Filme dort kuratiert werden. Ansonsten versinkt man bei der ganzen Auswahl, vor allem online. Zurzeit werden sehr viele Kurzfilme produziert, Smartphones und Digitalkameras erleichtern das.

Martina: Das Genre des Kurzfilms ist ja recht weit definiert. Kurzfilme können von wenigen Minuten, vielleicht nur einer Minute, bis 30 Minuten lang sein. Es gibt fließende Übergänge zum Langfilm. Das Filmförderungsgesetz hat seiner aktuellen, seit Anfang des Jahres geltenden Fassung den Begriff des Kurzfilms durch seine Dauer von bis 30 Minuten definiert und Förderprogramme eingeführt, um die Rolle des Kurzfilms als Vorfilm wieder zu stärken. Ich habe mehrere Jahre lang regelmäßig die Sendung „Kurzschluss“ auf arte verfolgt. Es gibt so erfrischend viele Ansätze und Arten von Kurzfilmen, witzige, rätselhafte, auf Pointe gemachte, es gibt Animationsfilme, sozialkritische Filme und Poesiefilme, die ein Gedicht verbildlichen, während der Text des Gedichtes gesprochen oder eingeblendet wird. Ich mochte am liebsten die Kurzfilme, die sich gegen eine Vereinnahmung gesperrt und mir eine Welt gezeigt haben, die mir unbekannt war. Bei welcher Art von Kurzfilm geht dir das Herz auf?

Angela: Im Gegensatz zu Langfilmen, bei denen fast immer einen Grundaufbau befolgt wird, hat man beim Kurzfilm viel mehr Freiheiten. Mich interessiert es am meisten, wenn mit dem Format `Film´ etwas Neues gemacht wird. Etwas herumprobieren, etwas aufnehmen und zusammenschneiden und damit experimentieren, was daraus werden kann.

Martina: Die Grenzen des Genres erweitern. Es ist übrigens ein zentraler Satz, den ich vor vielen Jahren in einem Marketingratgeber für Autoren gelesen habe.

Angela: Die Arbeit mit der Technik gehört bei der Filmarbeit dazu. Die Geschichte entsteht erst bei der Edition des Films, es kommt dabei auf Nuancen an. Kennst du die Eisenstein´schen Montagen? Dabei werden zwei Aufnahmen, die unabhängig voneinander gemacht wurde, miteinander verschnitten, so dass sie eine neue Bedeutung bekommen. Ein Beispiel wären Aufnahmen von Kinderarbeit mit Aufnahmen menschlicher Knochen.

Martina: Von dieser Technik hat Alexander Kluge in seiner Poetikvorlesung erzählt. Er sagte, durch die Kombination zweier voneinander unabhängiger Aufnahmen entstünde im Zwischenraum etwas Neues. In der Literatur nennt man das cut-up. Brian Gysin hat die Methode entwickelt, indem er eine Zeitung zerschnitten, die Teile verschoben und wieder zusammengesetzt hat. – Wie arbeitet ihr im Filmkreis Shorts?

Angela: Wir sind fünf Personen, die die Bewerbungen sichten. Einmal im Jahr präsentieren wir eine Auswahl der Filme, die uns erreicht haben. Inzwischen vergeben wir auch zwei Preise. Früher kamen die Bewerbungen von den Filmhochschulen und von lokalen Filmemachern. Inzwischen kommen die Filme von überall her, von Filmhochschulen, von unabhängigen Filmemachern und immer mehr von Agenturen, die dann die Filme vermarkten. Viele Filme kommen aus dem englischsprachigen Ausland, vor allem aus den USA und aus Großbritannien. Diese Filme müssen dann entweder deutsche oder englische Untertitel haben.

Martina: Wie werden die Filmemacher und die Agenturen auf euch aufmerksam?

Angela: Wir haben eine umfassende Facebookseite, einen Internetauftritt und man findet uns auch über Internetseiten zum Kurzfilm, zum Beispiel

 
www.shortfilm.de

www.ag-kurzfilm.de

www.niewiedershakespeare.de
 
Ansonsten spreche ich Filmemacher auch direkt an, entweder persönlich auf Festivals oder via Email.

Martina: Wie viele Einreichungen erreichen euch?

Angela: Die Zahl der eingereichten Filme ist wegen der extrem unterschiedlichen Länge der Filme nicht so aussagekräftig, eher die Gesamtlänge. Im vergangenen Jahr waren es etwa 18 Stunden Filmmaterial (100 Einreichungen). In diesem Jahr waren es 26 Stunden (140 Einreichungen).

Martina: Wie geht ihr als Vorjury bei der Auswahl vor?

Angela: Jede Person sieht alle Filme an. Etwa drei Monate lang akzeptieren wir Einreichungen, bis Ende Oktober. Wir treffen uns dann zeitnah zur Programmauswahl. Jede Person kann Filme bis zu einer bestimmten Gesamtlänge nominieren. Wir diskutieren dann über alle Filme, die auf diese Weise im Rennen sind. Wenn die Mehrheit von uns nach der Diskussion über einen Filmes gegen dessen Nominierung ist, fliegt der Film erstmal raus. So reduzieren wir die Zahl der Filme allmählich. Später arbeiten wir mit einem Punktesystem. Das wichtigste ist die Ausgewogenheit des Gesamtprogramms. Experimentalfilme, Animationsfilme, Dokumentarfilme, das alles wollen wir dabei haben.

Martina: Bei den meisten Wettbewerben fällt schon eine große Zahl von Bewerbungen beim ersten Durchsehen aus dem Stapel derjenigen, die überzeugen können. Was macht eigentlich einen schlechten Film aus?

Angela: Ein schlechter Film ist meistens einfallslos; man merkt, dass ein Film ohne Bewusstsein über das Medium gemacht wurde. Ein Beispiel wäre, dass die Kamera einfach nur irgendwo hin gestellt wird und zwei Leute einen Text aufsagen.

Martina: Ich denke gerade an „Coffee & Cigarettes“ von Jim Jarmusch, der Film besteht aus mehreren Kurzfilmen, bei denen fast immer zwei Leute reden. Ich meine mich aber zu erinnern, dass die Kamera nicht still steht. Kommt immer darauf an, wie etwas gemacht ist. Du beschäftigst dich seit etwa sechs Jahren mit dem Kurzfilm. Wie hat sich das Genre in der Zeit verändert?

Angela: Mein Eindruck ist, dass es immer mehr technisch und schauspielerisch perfekte Filme mit gradlinigem Plot gibt, die sich aber nicht so viel trauen. In den vergangenen zwei Jahren gibt es viele politische Filme, die die Flüchtlingslage aufarbeiten.

Martina: Den Eindruck, dass die Filme leichter verständlich und perfekter, aber langweiliger, sogar pädagogischer werden, hatte ich in den vergangenen Jahren auch. Was meinst du, woran liegt es? Hast du darüber mit Filmemachern auf Festivals gesprochen?

Angela: Oft werden Kurzfilme von jungen Filmemachern gedreht, um ein Portfolio für den Einstieg ins Film- oder Fernsehgeschäft aufzubauen. Da möchte man auf Festivals gespielt werden und Preise gewinnen. Sobald etwas aneckt, wird das schwierig. Ich merke das auch bei uns: Fünf Personen, fünf Meinungen. Bis wir ein Programm, mit dem alle einverstanden sind, zusammengestellt haben, fällt einiges heraus. Das ist natürlich eine spannende Aufgabe, der wir uns sehr gerne und mit viel Verantwortungsbewusstsein widmen. So ist auch wieder das Programm für dieses Jahr entstanden, das viele verschiedenen Seiten des Kurzfilms zeigt.

Martina: Danke, Angela, dass du dir die Zeit für unser Gespräch genommen hast.

Angela: Danke ebenso, auch für den Tee.

Martina: Bis Samstag dann.
 
 

3. Filmkreis Shorts Kurzfilmwettbewerb, Samstag, 21. Januar 2017, 19.00 Uhr, Audimax Universität Darmstadt

Weitere Informationen: www.filmkreis.de/shorts

Es werden dreizehn Kurzfilme mit einer Gesamtdauer von 120 Minuten gezeigt. Vergeben werden ein Jurypreis und ein Publikumspreis.

 

Liste der Filme, die am 21.01. vorgeführt werden:

 

Last Call Lenny
Ein Sommertag
doors of perception
ANNA
Maman und das Meer
Monsterfilm
Blight
All the World is a Stage
Die Blaue Sophia
The Alan Dimension
Hausarrest
Über Druck
Our Wonderful Nature – The Common Chamaeleon

 
 
 

 

 

MEREDITH MONK: ON BEHALF OF NATURE

 

Ja, es dreht sich um Natur, Evolution, Klimawandel, Zerstörung, Transformation, aber diese Musik ist ein Akt der Beschwörung, nicht der Belehrung. 74 Jahre hört man der Stimme der Meredith Monk nicht an, wohl aber die, zahlreiche Monde ungebrochene, Kreativität, mit einer kleinen Schar von Sängern und Instrumentalisten unerschöpfliche Musik anzuzetteln, in der Avantgarde und Archaisches eins werden. Ich schaue mir die Herbstliste des letzten Jahres an, gerade die Werke der „New Series“, und rufe wohl morgen mal im Hauptquartier nahe München an, um auch noch Eleni Karaindrou und Gavin Bryars ins Haus zu holen, allesamt Stammgäste der Klanghorizonte seit 1990, und in entlegenen Räumen unterwegs.

 

2017 16 Jan

Winter is Icumen in

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I forbid myself mention of sex imagery from all walks of life found in folk songs. Suffice it to mention a few: the water-pail in the well, the plot of land, the boatman, the monk, etc. LIN YUTANG

If you were to sing me a folk song, neglect not the water-pail in the well, the plot of land, the boatman, the monk. Begin with the shade thrown over the Malacca River and sing to me of the water, mucid and still, or the waitresses passing fugitive smiles as they balance chilled glasses of lime juice. Since I am here, do not omit the chrysanthemum flowers, or the perspiring mango trees, or even the cows grazing by the billboards. I want your voice to rise and fall like the dishes tossed from one coloured plastic tub to another cleansed in the sudsy hands of a row of squatting women. If you were to sing me a folk song, sell it with kaya jam, papaya, coconuts,sugarcanes, and clams. Finish it lightly and linger, like the girl in the bakery whose fingers were dusted in white flour; she asked: IS THAT EVERYTHING YOU WANT? CAN I GET YOU ANYTHING ELSE?

 

(Love that sensual text from Gillian Sze.)

 


 
 
 
Dies ist eine Unvollendete. Dieter Moebius war eingeladen, eine Musik für Fritz Langs Stummfilm Metropolis zu entwerfen, die live zum Film aufgeführt werden sollte. Leider ist ihm Freund Hein dazwischengekommen. Einige „finishing touches“ sind nun von Irene Moebius, Tim Story, Jon Leidecker und Jonas Förster ergänzt worden.

Was man jetzt hört, sind vier jeweils etwa zehnminütige vorbereitete Backing-Tracks mit den Titeln „Schicht“, „Moloch“, „Tiefenbahnen“ und „Mittler“ (wer den Film kennt, wird wissen, auf welche Szenen sich die Titel beziehen), zu denen live improvisiert werden sollte. Viele rhythmisierte Störgeräusche klingen collagenartig zusammen, darauf tanzen gefärbtes Rauschen, viel Metallklirren und Glöckchengeklingel, auch ein Sample aus dem Album Cluster II ist zu hören. Die Stücke lassen ahnen, was dem guten Moebius wohl vorgeschwebt haben mag.

Ich bin nicht sicher, ob das Ganze wirklich eine gute Filmmusik für Metropolis abgegeben hätte. Eher scheint mir der Film als Inspirationsquelle für die Stücke gedient zu haben. Der Film zeigt nicht nur utopische Architektur und Technologie, sondern hat eine mindestens ebenso starke romantische Seite. Die orchestrale Originalmusik von Gottfried Huppertz umfasst beide Aspekte, der Moebius-Musik fehlt klar der letztere. Aber das ist kein Fehler. Man höre Musik für Metropolis einfach als Album, dann ist es Moebius „at his best“. Er macht hier genau das, was er immer am besten konnte: irritierende Klanglandschaften zu designen, in denen man sich trotzdem nach kurzer Orientierungsphase zu Hause fühlen kann.

Die ersten 100 Besteller bei Bureau B erhalten mit der CD einen numerierten Druck des Coverbildes.

 

Dieter Moebius:
Musik für Metropolis
Bureau B, BB248

2017 15 Jan

Bitter Wash Road

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In den letzten sechs Wochen habe ich zwei Kriminalschriftsteller entdeckt, die darüber hinaus, im einen Fall Lyrikbände, im anderen Fall Kinder- und Jugendbücher, verfassen – ganz und gar glückliche Entdeckungen! Stephen Dobyns ist Amerikaner, seine Thriller Das Fest der Schlangen und Is Fat Bob Dead Yet? sind kleine Meisterstücke mit einem ureigenen Sound aus „Noir“, Sprachwitz und Sprachverführung. Der bei den Manafonisten bislang noch nie aufgetauchte Gary Disher ist keinesfalls ein Unbekannter. 1949 wurde er im ländlichen Südaustralien geboren, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Grant McLennan, einer, der in guten Büchern und Songs versinken konnte, nie das eine oder andere seiner Bücher gelesen hat. Bitter Wash Road, erschienen im Unionsverlag, ist der erste Roman, den ich von ihm in Händen halte. Eins dieser Bücher, die einen von der ersten Seite an gefangen nehmen, und in diesem Falle in die Outbacks führen, ins Fernab der grossen Städte, wo das Böse in hitzestarrender Luft noch gnadenloser erscheint. Aber hier gibt es auch die Bündnisse mit denen, die Opfer sind, Bedrohte, Ausgesetzte. Mark Twain hätte dieses exzellent übersetzte Werk genauso geschätzt wie Dashiell Hammett. Sollte dieser Kriminalroman je verfilmt werden, im Abspann könnte gut „Cattle and Cane“ zu hören sein, und jeder wird noch etwas tiefer in den Kinosessel rutschen.


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