Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2017 4 Jan

Ryuichi träumt mit links

von: Uli Koch Filed under: Blog | TB | Tags: , | 11 Comments

Träume ich oder bin ich wach? Dies ist nicht nur die Ausgangsfrage eines jeden Klarträumers, nein, nicht Frage sondern wiederholte ernsthafte Überprüfung des eigenen Bewusstseinszustandes. Darauf wies der Klartraumforscher Paul Tholey vor etwa 30 Jahren in seinen Seminaren an der Uni Frankfurt und seinem Buch zum Klarträumen hin. Die Sache hat nun einen kleinen Haken: Wenn ja, wo bin ich wirklich? Diese kleine und scheinbar unbedeutende Frage kann man sich höchst berechtigt sowohl im Traum- wie auch im Wachzustand stellen mit keineswegs immer eindeutigen Antworten …

Träume ich oder bin ich wach? Wo bin ich hier: in einer Schleife gestrandet, wo ich die Worte dieses Blogs immer nur rezeptiv begeistert aufnahm und nun auf einmal mit vielen Anderen zum eigenen Leser werden und mich kommentieren kann? In einer eigenen virtuellen Realität, die durch erträumte Schnittmengen ein Panoptikum an Ideen und Inspirationen abfeuert? Spielt sich das jetzt wirklich ab oder ist „Breaking 13“ nur ein Seriensequel, dass sich aus einer ominösen Klartraumapotheke speist und meine Neurotransmitter gerade einen obskuren Schreittanz vollführen lässt? Und wenn ja: gibt es unterschiedliche Traumformen?

Vor Jahren arbeitete ich in einem Schlaflabor und wir weckten unsere Probanden aus unterschiedlichen Schlafphasen, um zu erforschen, ob Träume in allen Schlafstadien auftreten können. Sie konnten. Da waren die faktischen, grauen, drögen Träume aus den Tiefschlafphasen, die einsilbigstens berichtet wurden und nach vielen Zwischenstadien die bunten, intensiven, phantastischen der REM- oder Traumschlafphasen, die direkt nach dem Wecken ausschweifend geschildert werden konnten und uns Mitarbeiter in einen Strudel aufgebrochener unterbewusster Welten fast filmartig hineinriß. Bilder können das auch manchmal. Und Musik natürlich.

 
 
 

 
 
 

Eines Winternachmittags in Frankfurt starrte mich also dieser gut geschminkte Typ im Montanus-Plattenladen aus der Auslage an. Lesen konnte ich die Aufschrift leider nicht, war die japanische Fassung. Fand das Cover aber auf den ersten Blick sympathisch, nein eher magisch anziehend. Also reinhören. Aber: Was war das? Eine Sorte unbekannter Popmusik? Japanische Zauberformeln? Vielleicht auch ein bislang unentdecktes Universum, das mich mit jedem mal hören tiefer in sich hineinzog und so eigenartig faszinierend und fremd war wie die plastischen Träume unserer Probanden.

Left Handed Dream. Gibt es sowas überhaupt? Das Traumlexikon sagt dazu, dass Träume mit dem Aspekt der Linksseitigkeit darauf verweisen, dass man sich der unbewussten Seite des Erlebens vermehrt zuwenden sollte. Da geht es also hin oder ist Sakamoto halt Linkshänder und die träumen vielleicht anders? Diese vertrackten Arrangements, die viel mehr ein japanisches Empfinden als die dortige Musikkultur abbilden. Diese archaischen manchmal sogar fast tanzbaren Rhythmen, die schrägen Gitarrensounds von Adrian Belew, der näselnd-monotone japanische Gesang (ich mag die amerikanische Version dieser Platte bis heute nicht) und dann die seltsamsten Tierstimmen im letzten Song. Chill-factor. Fragmente. Tell me your story … a yellow chrysanthemum. Die Blume des japanischen Kaiserhofes oder doch der Mohnblütengarten? Träume ich immer noch oder bin ich wach? Ich weiß es bis heute nicht, aber Ryuichi jedenfalls träumt mit links …

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11 Comments

  1. Jan Reetze:

    Links- oder rechtsdrehend, ein sehr schönes Album. Mein erstes von ihm.

  2. Michael Engelbrecht:

    Immer mein Lieblingsalbum von ihm gewesen, aber auch das einzige. In Erinnerung habe ich, dass er damals viel ANOTHER GREEN WORLD gehört haben soll, als Inspiration. Mit Sylvian hat er auch eine Story. Da schliessen oder öffnen sich wieder Kreise …

    Ich mochte nie das YMO, an dem er wohl beteiligt war, zu aufgeblasen in meinen Ohren.

    Später fabrizierte er manchen süssen Pianokitsch zum Weglaufen, aber auch Fein-Minimalistisches, das mir wieder gefiel, an der Seite von Fennesz oder Alva Noto. Wie zuletzt bei dem Soundtrack zu THE REVENANT.

    Ich hatte damals die Schallplatte, und erinnere mich dunkel an japanische Schriftzeichen. Wusste gar nicht, dass es eine Version für den amerikanischen Markt gab.

  3. Gregor:

    Herzlich willkommen, Uli, freue mich auf deine Beiträge!

  4. Markus Muench:

    THE REVENANT war für mich DAS Album in 2016.

  5. Rosato:

    Was für eine schöne facettenreiche Geschichte. Meine Left Handed Dream LP habe ich gleich aus ihrem Schlaf geholt und erkenne, was ich über die Jahre verschlafen habe …

    Ich habe die in Holland gefertigte, vermutlich ‚amerikanische‘ Version (Label: Plexus Holland). Werden auf der japanischen Edition nur in Japanisch gesungen?

    Als Proband zur Erforschung des Träumens würde ich mich kaum (mehr) eignen. Ich vergesse meist nach kurzer Zeit, was ich geträumt habe. Nur an jene Träume mit gleichsam leitmotivischem Inhalt – ich kenne 4 solche wiederkehrende Traummotive – kann ich mich recht gut erinnern.

  6. Michael Engelbrecht:

    Das Erinnern lässt sich leicht trainieren. Du unterschätzt deine Ressourcen in diesem Fall sehr, wenn ich das so sagen darf.
    Was man für den ersten Klartraum braucht, ist ein gescheites Einführungsbuch, tägliches Üben (nicht zeitintensiv), aber, vor allem, eine extrem hohe Motivation, klarträumen zu wollen. Und wer wie du, wiederkehrende Motive kennt, hat es noch leichter!

  7. Uli Koch:

    War ja auch mein erstes Sakamotoalbum und ist mir immer noch das liebste. Ja, Rosato, Du hast das amerikanische Album. Auf dem Japanischen sind mindestens vier der Songs in japanisch, wobei meine Favourite-Version der japanische extended Remaster von 2015 mit einer zweiten CD mit Instrumentalversionen ist, bei denen fast noch deutlicher wird, wie zeitlos diese Musik ist.

    Es finden sich übrigens in diversen Blogs und Foren höchst amüsante Diskussionen darüber, was linkshändiges Träumen seien könnte und wer welche Erfahrungen diesem Themenbereich zuordnen würde … Klarträumen schienen die meisten aber nicht zu kennen …

  8. Lajla:

    Hi Uli, bist du Linkshänder? :) Heute steht in der SZ ein interessanter Artikel über den Zustand, in dem wir uns befinden, wenn wir kreativ sind – wir pendeln zwischen Tagtraum und Schlaf. (S.14 / Wissen)

  9. Hans-Dieter Klinger:

    (S.14 / Wissen)

  10. Lajla:

    Danke Rosato

  11. Uli Koch:

    Hi Lajla, nein, bin kein Linkshänder, kann die linke Seite aber für sehr viele Aktivitäten recht gut nutzen.

    Der SZ-Artikel ist spannend. Die alten Inder bereits klassifizierten den Traumschlaf als Raum, in dem das Potenzial für Kreativität schlummert, aber halt nicht in vollbewusster Form. Klarträumen stellt da so eine Art Kurzschluss mit dem Wachbewusstsein dar.

    Hier wird auch schnell deutlich, warum das mit der programmierten Kreativität an Grenzen stößt (was in den Artikel leider nicht weiter diskutiert wird): Kreativität hat einmal viel mit der von Lotfi Zadeh Mitte der sechziger Jahre formulierten Fuzzy-Logic, also unscharfem Denken und Folgern zu tun, dann mit Emergenz, v.a. des Unvorhergesehenen und damit einem – psychologisch formuliert – Reframing (also Bekanntes in neue Kontexte oder Unbekanntes in Bestehendes zu setzten), dem Schaffen neuer Bedeutungszusammenhänge oder einfach nur neuer Bezüge.

    Das wird man mit Computern gewiss bald gut simulieren können, aber vielleicht bleibt da ein Restchen Unmöglichkeit, so als ob man versuchen würde aus einer gut simulierten Kaffeetasse Kaffee zu trinken.


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