Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: November 2016

Geschichten aus der Jukebox (3)

 
 

Die Taste 230 wird gedrückt, die NSA-Musikbox knackt und knistert, der Plattenwagen setzt sich in Bewegung, eine blaue Columbia-Single wird herausgefischt, das Shure-system fährt heran, nach dem ersten Ton weiß jeder, welche Platte gewünscht wurde, Cliff Richard: Congratulations. Aber was für ein grauenhafter Sound, es quietscht, quäkt, eiert, die Single müht sich voran, braucht aber statt 2:31 Minuten mindestens sechs, gefühlte 10 Minuten bis die Platte wieder in ihrem Fach verschwindet. Klar, denkt sich der Jukebox-Man, die Box ist länger nicht gelaufen, das Öl, das an den beweglichen Teilen der Musikbox haftet, die Schmiere ist verharzt, deshalb läuft die Platte nicht rund. Normalerweise ist jetzt Geduld angesagt, Lautstärke auf Null drehen und Platten laufen lassen, was das Zeug hält, nach zwei drei Stunden ist dann alles gut und die Singles bewegen sich im Normalgeschwindigkeit: Aber, Besuch naht, der sich auf die Box und das vergnügliche Plattendrücken freut. Da hat unser erfahrene Jukebox-Man nun eine tolle Idee, er denkt, man könnte die Wartezeit abkürzen, indem man gezielt mit dem Haarföhn etwas heiße Luft auf die beweglichen Teile der Box, also den Plattenwagen, richtet. Wow, es klappt, die Platten drehen sich fast schon in Normalgeschwindigkeit. Föhn abgeschaltet, Platten gedrückt, aber irgendwas scheint nicht zu stimmen, der Schallplattengreifer bekommt die Singles nicht aus dem Fach. Mir wird schwarz vor Augen, ich weiß sofort, was passiert ist … wie doof kann man eigentlich sein, was für ein jämmerlicher Idiot, ich fasse es nicht, hoffentlich liest keiner meiner Jukebox-Kunden diese Zeilen: die warme Föhnluft hat Platten über Platten auf immer zerstört, verformt, besser gesagt … nein, ich kann es nicht sagen, … meine wunderbaren uralten Singles … einfach … geschmolzen, jetzt ist es raus!

 
 
 

 
 
 

Die Verlustliste:

 

  • Cliff Richard: Congratulations
  • Casey Jones and the Governors: Don´t Ha Ha
  • Christie: Yellow River
  • Simon and Garfunkel: El Condor Pasa
  • Pink Floyd: Another Brick uín the Wall
  • Michel Prolnareff: Gloria
  • Nat „King“ Cole: Don´t Get Around much anymore
  • Nat „King“ Cole: The Party´s over
  • The Les Humphries Singers: Promised Land
  • The Creation: Painter Man
  • Desmond Dekker: You Can Get It If You Really Want
  • The 5th Dimension: Aquarius

 

Leider ist es durchaus möglich, dass die Liste noch länger wird, schließlich habe ich noch nicht jede der 100 Singles angespielt … und ein winziger Knick reicht ja schon …

Ich fasse es nicht!

 
 
 

 

Clara Mondshine ist ein einzigartiger Name, unauffindbar in Telefonbüchern und Einwohnerverzeichnissen – ein Kunstname, ein Künstlername. Dass Bachauer Clara ist, wurde nicht geklärt als ich zwei- oder dreimal Musik von Mondshine im RIAS hörte.
Im Juli 1988 lief mein Cassettendeck im Aufnahmemodus.

 
 

clarvis1o

 
 

Am laufenden Band (4)

 

 

(Sendung RIAS am 8. Juli 1988 – Moderation: Hildegard Curth)

 

Ocean of Tears

The Final Ritual

 

Bachauer mochte die Musik von Eno.

Diese drei Personen sind am 5. Oktober 1974 beim Metamusik-Festival in der Nationalgalerie Berlin aufgetreten. British Rock of the Avantgarde hieß die Veranstaltung. Da war es nicht mehr lange hin zu ANOTHER GREEN WORLD
 
 
 

 
 
 
In der Retrospektive der Metamusik-Festivals 1 und 2 (veranstaltet von den Berliner Festspielen und dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD in Verbindung mit RIAS Berlin) werden zahlreiche Veranstaltungen in Wort und Bild beschrieben und mit Rezensionen aus renommierten Zeitungen bedacht, nicht jedoch der Auftritt von Nico, John und Brian. Ein Review dieser denkwürdigen Veranstaltung kann man hier finden.
 
 

Am laufenden Band (3)

 


 
 

Walter Bachauer
Abreise ins südliche Blütenland – Die Avantgarde auf dem Weg zur Popularität

(Sendung RIAS am 26. Juli 1982)

2016 16 Nov

Walter Bachauer

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Walter Bachauer war eine Wucht. Was er in den Äther schickte erstaunte mich – Sachen, die der Bayerische Rundfunk Äonen später sendete (wenn überhaupt) …

Bachauer produzierte das Avantgardemagazin und das Musicarium im RIAS. Die beiden Sendungen wechselten sich ab und waren jeweils Montags von 23 Uhr bis 1 Uhr zu hören. Lebhaft in Erinnerung ist mir eine Ausgabe des Musicariums mit Gustav Mahler, Pink Floyd und einer Indischen Raga. Es war Bachauers Bestreben, Grenzen zu ignorieren oder gar als nicht vorhanden zu deklarieren. Dafür war ihm die Plattform ‘Radio’ offensichtlich zu eng. Er verwirklichte dieses Konzept in seinen Metamusik-Festivals 1974, 1976 und 1978 in Berlin.

Vieles habe ich in Sendungen Walter Bachauers zum ersten Mal in meinem Leben gehört: Steve Reich, Philip Glass, Terry Riley, Brian Eno, Laurie Anderson, Clara Mondshine, Ghana Dance Ensemble, John Cage, Joan LaBarbara, Gesang Tibetanischer Mönche und mehr.

 
 
 

 
 

Der Entschluss
 

Zur Erholung fuhren meine Eltern mit Großvater und uns nach Adlenz auf die Bürgeralm. Paul, der inzwischen Germanistik und Geschichte studierte, traf in der Berghütte einen Schulkameraden, Walter Bachauer. Walter war ein besonders begabter und offener Mensch. Er war groß und kräftig und hatte infolge eines missglückten chemischen Experiments eine weiße Augenbraue, die mich an Kapitän Ahab in Melvilles »Moby Dick« erinnerte. Er hatte mit Paul in der sechsten Klasse eine Reise an den Ossiacher See gemacht und ihm beim Messerwerfen mit der Klinge den Handrücken verletzt, der seitdem eine breite Narbe aufwies. Trotzdem blieben sie befreundet. Während Großvater abwechselnd mit Helmut und meinem Vater Schach spielte, redete ich mit Walter über alles Mögliche. Er kannte sich besonders bei der Avantgardemusik aus, brachte mir Mahler, Schönberg, Berg und vor allem Webern nahe und schenkte mir Bücher, die einen Einfluss auf mein Denken nehmen sollten: den »Kinsey-Report«, Sigmund Freuds »Traumdeutung« und den »Ulysses« von James Joyce, den ich von da an jahrelang mit mir herumschleppte, bis ich ihn endlich zu lesen anfing. Die endlosen Gespräche mit Walter öffneten mir ein Tor zu einer Wirklichkeit, auf die ich schon lange neugierig gewesen war.
 

aus: Gerhard Roth, Das Alphabet der Zeit

„Reflection is the latest work in a long series. It started (as far as record releases are concerned) with Discreet Music in 1975 ( – or did it start with the first Fripp and Eno album in 1973? Or did it start with the first original piece of music I ever made, at Ipswich Art School in 1965 – recordings of a metal lampshade slowed down to half and quarter speed, all overlaid?)

Anyway, it’s the music that I later called ‘Ambient’. I don’t think I understand what that term stands for anymore – it seems to have swollen to accommodate some quite unexpected bedfellows – but I still use it to distinguish it from pieces of music that have fixed duration and rhythmically connected, locked together elements.

The pedigree of this piece includes Thursday Afternoon, Neroli (whose subtitle is Thinking Music IV) and LUX. I’ve made a lot of thinking music, but most of it I’ve kept for myself. Now I notice that people are using some of those earlier records in the way that I use them – as provocative spaces for thinking – so I feel more inclined to make them public.

Pieces like this have another name: they’re GENERATIVE. By that I mean they make themselves. My job as a composer is to set in place a group of sounds and phrases, and then some rules which decide what happens to them. I then set the whole system playing and see what it does, adjusting the sounds and the phrases and the rules until I get something I’m happy with. Because those rules are probabilistic ( – often taking the form ‘perform operation x, y percent of the time’) the piece unfolds differently every time it is activated. What you have here is a recording of one of those unfoldings.

Reflection is so called because I find it makes me think back. It makes me think things over. It seems to create a psychological space that encourages internal conversation. And external ones actually – people seem to enjoy it as the background to their conversations. When I make a piece like this most of my time is spent listening to it for long periods – sometimes several whole days – observing what it does to different situations, seeing how it makes me feel. I make my observations and then tweak the rules.

Because everything in the pieces is probabilistic and because the probabilities pile up it can take a very long time to get an idea of all the variations that might occur in the piece. One rule might say ‘raise 1 out of every 100 notes by 5 semitones’ and another might say ‘raise one out of every 50 notes by 7 semitones’. If those two instructions are operating on the same data stream, sometimes – very rarely – they will both operate on the same note…so something like 1 in every 5000 notes will be raised by 12 semitones. You won’t know which of those 5000 notes it’s going to be. Since there are a lot of these types of operations going on together, on different but parallel data streams, the end result is a complex and unpredictable web.

Perhaps you can divide artists into two categories: farmers and cowboys. The farmers settle a piece of land and cultivate it carefully, finding more and more value in it. The cowboys look for new places and are excited by the sheer fact of discovery, and the freedom of being somewhere that not many people have been before. I used to think I was temperamentally more cowboy than farmer… but the fact that the series to which this piece belongs has been running now for over 4 decades makes me think that there’s quite a big bit of farmer in me.“

 

GUITAR MASTERS 2016
 
 

Es waren 24 Gitarristen aus aller Welt ins Neue Musik Forum eingeladen. Gewinnen konnte man 8000 Euro in der Kategorie FINGERSTYLE. Teilnahmebedingung war, dass man mindestens ein Stück vom FINGERSTYLE Maestro Tommy Emmanuel spielte. Der Australier saß zusammen mit den anderen Heroes, Piotr Restecki und Martin Taylor, in der Jury. Dann wurde er plötzlich krank und konnte deswegen beim Konzert nicht auftreten. Schade. Alle Emmanuel-Stücke, die von den Gitarristen vorgetragen wurden, haben mir sehr gefallen. Ich möchte nur drei Musiker von dem Marathon hervorheben, die mir besonders auffielen.

 

1. Der Russe Danis Scherback. Er war sehr nervös, bekreuzigte sich, verlangte einen anderen Stuhl und legte dann los mit BOOGIE von Emmanuel. Für mich der allerbeste Vortrag: Power und doch Sensibilität. Virtuos und sehr souverän spielte er noch zwei Variationen von Bogoslovsky „Cabman“ und von Mokrousov „Lonely  Accordion“. Jeder Gitarrist musste mindestens eine eigene Komposition vortragen. Danis spielte „Angel“.

2. Der sehr junge Marcin Patrzałek aus Polen. Umwerfend wie er den ganzen Gitarrenkörper mit zwei Händen bespielte. Am Hals spielte er so fein, dass man den Eindruck von einem Streichorchester hatte. Dann haute er wie ein Flamenco Könner auf den Bauch des Instruments, um dann in die Saiten zu greifen. Er spielte von Emmanuel THE TALL FIEDLER. Einfach großartig. „Toxicity“ von System Of A Dawn und „Mission Impossible“ von L. Schifrin waren weitere Variationen. Für mich war er der beste Percussionist.

3. Aus Deutschland war der junge Pascal Farin angereist. Ha, er spielte von Emmanuel TRAIN TO DÜSSELDORF. Sein eigenes Stück „Star of the Sea“ spielte er sehr ruhig und leise. Für seine Performance (nach Chet Atkins) von dem McLean Klassiker „Vincent“ habe ich mich anschließend in der Pause bei ihm bedankt. Ein déjà-entendu vom Feinsten. Pascal spielte noch von John D. Loudermilk „Windy and Warm“, von P. Ballard „Mr. Sandman“. Und andere …

 

Das war mal ein supertolles Hörerlebnis.

David Lindorfer ist zweiter geworden, Soenke Meinen wurde erster. Ich fand beide zu professionel. Klar, lohnen ihre Stücke zum Nachhören im Netz.

2016 15 Nov

The Labyrinth Of A Straight Line

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In einer unendlich verzweigten Szene, voller Stilbrüche, Seitenwege und Sundowner, bleibt vieles verborgen. Es ist interessant, wie eine Generation, die einst für Aufbruch stand, ein ums andere Mal die Nostalgiekarte zieht, auch wenn einstige Meilensteinsetzer lange schon in der Beschaulichkeit angekommen sind. Meister ihres Fachs, die bis zum Schluss kleine Beiträge zur Abteilung ars longa abliefern, sind uns zum Glück lang erhalten geblieben, dieses Jahr machte es, mitunter, schmerzhaft deutlich.

Aber abseits der einsamen Klasse jüngster / letzter Werke von David Bowie, Leonard Cohen, Brian Eno, Paul Simon oder Nick Cave gibt es eine andere Unterwelt, reich an entlegenen Klängen, die, wenn sie überhaupt eine Historie anzapft, dann eine verwitterte, die aus Drogenkulturen und politisch-spirituellen Kraftfeldern der Sechziger Jahre, aus Feldaufnahmen und Zeitreisen hervorgegangen ist, von der Klanggewalt  alter britischer Lokomotiven bis zu elektronischen Jenseitsbildnissen (David Behrman), von alten Trickfilmmusiken bis zu javanischer Geistermusik, von wilder Roots-Musik aus den Appalachen bis zu diversen unortbaren „X-Files“, klassifiziert als „Exsurrealist“, „Dubhousing“, „Doom“ und „Strange“.

Der dreizehnte Manafonista schreibt derzeit in Cleveland, Ohio, an dem Buch dieser Geschichte. Es darf durchaus der Punkt erreicht werden, in der Schreiberei über Musik, wo die Fakten Traumland betreten, Grammophone wie von Geisterhand anspringen, und ein lang unentdeckt gebliebenes Stück von „Neu!“ in einer Krefelder Diskothek den Boden unter den Füssen wegzieht.

Solange nichts von alledem allerweltstauglich verbogen wird, in falschem Schönklang erstarrt, zu guter alter Psychedelik erklärt wird, taucht  aus dem Nichts, gleichsam unermüdlich, ein Underground nach dem andern auf,  wie etwa The Labyrinth Of A Straight Line von Cindytalk, ein Werk, das am 9. Dezember bei „Editions Mego“ erscheinen wird.

 
 
 

 
 
 

„The Labyrinth of the Straight Line“ is a compilation of chimerical poetry. Ambiguous haikus of agony, melancholy, obscurity and dissensus are unfolding over time. Walking on the shapeshifting paths of transgression, on the search for new realities since the early 1980’s, Cindytalk’s latest release pays homage to their industrial roots, comprising brutalist outbursts in abstract sceneries of beauty and abysmality.

As surreal and introspective as a film by Jean Cocteau, as labyrinthic and enigmatic as a story of Borges, Cindytalk succeeds in spatializing subjectivity. These introverted detournements follow the logic of dreams and form the unsettling soundtrack of an unresting mind. The outcome can be abrasive and balearic at times, but also delicate and melancholic. ‚The Labyrinth Of The Straight Line‘ forms an alphabet of dark and obscure detachment. Acid shivers of a body without organs and convulsive pumps of arteries alternate with poignant murmurs of the past that dissolve in tender shades of hushed despair and graceful debris.

We find ourselves in spaces with walls crumbling down or concaved by glazed mirrors terrorizing the claustrophobic body. From time to time we can hear a disembodied voice, speaking soft and clear like a narrator from a different reality.

Sonic psychogeography between somnambul dark ambient, claustrophobic post-industrial and nightmarish techno. Delightful sketches of escatology.

 
 

Sweet Dreams!

2016 15 Nov

Detectorists, season one & two

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Bei aller Liebe zu England musste ich mich einst doch fragen, ob mir eine Ader für „typisch britischen Humor“ fehlt. Schliesslich hat weder in jungen noch in späteren Jahren irgendein Film von Monty Python auch nur das kleinste Schmunzeln bei mir ausgelöst, von einem Lachanfall ganz zu schweigen. Nun aber muss ich mir keine Gedanken machen, denn „britischer Humor“ scheint ein weites Feld zu sein, und die zwei Staffeln der Serie „Detectorists“ (DVD Box Set seit Ende Dezember erhältlich) sind geradezu eine Schule der Heiterkeitsausbrüche, nicht zuletzt weil die skurrile Komik stets ausbalanciert wurde von den kleinen Obsessionen und Verlorenheiten der hier auftauchenden Tagträumer.

„With its wistful tone, subtle, folky score and confidence in letting dialogue and sentiments breathe, it’s a show that does not feel the need to shout about its strengths. In fact, the series is not even really about metal-detecting. The hobby could be replaced by trainspotting, bird-watching or just spending too much time in the shed. It’s what these characters are running from, as much as what they are looking for, that lies at its heart.“   (David Renshaw, The Guardian).

Wer hätte schon gedacht, dass das amerikanische Folk-Duo Simon & Garfunkel zum coolsten „running gag“ der jüngeren BBC4-Historie mutieren, und im Norden Suffolks auf Schatzsuche gehen würde!? Und dass in der zweiten Staffel die botswanische Black Metal-Combo „Black Crust“ den heimischen Gefilden einen bizarren afrikanischen Horizont öffnen würde, ohne dass von ihnen nur ein einziger Brachialsound erklingt. In einer Zeit, als Ray Davies mitten im „love & peace“-Rummel zwischen Carnaby Street und Marquee Club die Spuren eines alten, immer mehr verschwindenden Britanniens nachzeichnete, hätte er auch hier in der Provinz fündig werden können, bei diesen im Scheitern erprobten „Metalldetektoristen“. In einer Szene findet Lance tatsächlich ein altes Teil unter der Erde, mit römischer Inschrift: „Status Quo“. Leider nur die Devotionale eines anonymen Rockers.

P.S.: Es wurde auch Zeit. Nach den 90er Jahren, die mit TWIN PEAKS und THE X-FILES den Boden bereiteten für eine noch ungeahnte TV-Serien-Zukunft, kam es in den letzten zehn, fünfzehn Jahrn zu einer enormen Verdichtung von Qualität. Und ohne dem letzten Schrei hinterherzuhecheln, werden wir allmonatlich herausragende Serien des 21. Jahrhunderts vorstellen, manche werden schon Klassikerstatus haben, andere gerade erst die Bildschirme oder heimischen Kinoleinwände erreicht haben. Stets wird ein komplettes Serienpaket vorgestellt. Gerne von Manafonisten, eine Mail (manafonistas@gmx.de) ans MHQ, Hannover, genügt, um den jeweils nächsten oder übernächsten Monat abzustimmen.

2016 15 Nov

Katie Gately: „Color“ (Album of November)

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Ich höre mir ja jedes neue Madonna-Album an — nicht weil ich Fan von Frau Ciccone wäre, sondern einfach, weil es ja doch immer mal sein könnte, dass sie sich doch noch einmal die richtigen Partner/innen sucht und am Ende das innovative Popalbum macht, das sie jedes Mal von Neuem verspricht. Doch Madonna hat seit den Tagen mit William Orbit und Mirwais Ahmadzaï leider stetig nur auf aktuell angesagte Hipster-Produzenten gesetzt (anders als etwa Björk, die zuletzt Alejandro „Arca“ Ghersi und Bobby Krlic alias The Haxan Cloak anfragte, als die beiden nicht einmal Spezialisten ein Begriff waren).

Warum diese Vorrede? Weil Katie Gatelys Stimme auf ihrem Debütalbum nicht selten so klingt, als handle es sich bei Color um das lange versprochene Madonna-Album, das Songwriting und experimentelle Elektronik zu einem ambitionierten, hochkomplexen „State of the Art“-Pop verbindet. Ach, was wäre es schön, wenn die junge Dame aus Los Angeles auch nur ein Drittel der Aufmerksamkeit bekäme, die Madonna mit jedem neuen Album generiert, sich auf den Ideen anderer Popmusiker ein bequemes Polster einrichtend. Ich denke mir so, dass tatsächlich Hunderttausende diese Musik hören würden, wenn da jetzt „Madonna: Color“ auf dem Cover stünde. Den Unterschied würden die meisten doch ohnehin nicht mitbekommen, bei den Softwaretechniken, mit denen Madonnas Gesangstimme mittlerweile verfremdet wird (und, wie gesagt, der Unterschied zwischen den Stimmen der beiden ist, soweit die Songs dieser Platte zeigen, ohnehin nicht groß). Und die 25% der Käufer und Hörer, die sich über „das neue Madonna-Album“ eh nur beschweren würden, weil es (wieder einmal?) nicht spannend / traditionell / innovativ / klassisch / eingängig / mutig (Zutreffendes bitte unterstreichen) genug ausgefallen ist, die kann man getrost vergessen, denn die Ausfallquote — derer, die sich ja doch eigentlich eine andere CD gewünscht hätten — gibt es ja doch zuverlässig mit jedem neuen Album.

Nun wird Katie Gately sicher niemals den Status einer Madonna einnehmen. Doch anders als die ältere Kollegin aus Michigan, die bereits zu lange auf bereits (von anderen) erprobte Ideen setzt und diese mit ihren üblichen Songideen zusammenfügt, bringt die dreißig Jahre jüngere New Yorkerin sehr zeitgenössische und mutige Klangideen mit Pop-Songwriting zusammen, manchmal eingängig („Sift“, „Color“), manchmal radikal fragmentiert, verzerrt und manipuliert, und es ist deutlich, dass sie sich keineswegs immer sicher ist, was als Ergebnis ihres orchestral spielerischen Arbeitsprozesses hinten rauskommen wird. Color ist, anders als zuletzt Rebel Heart, MDNA und Hard Candy (schon die mauen Albumtitel tragen ihr Pseudo-Wagemuts-Programm unbeholfen vor sich her), eine echte Wundertüte mit verqueren (um ganz hip zu sein, müsste man wohl sagen: „queeren“) Pop-Melodien, die mit verzaubernder Produzentinnenfantasie zu einem surrealen Album voller eigenwillig spannungsreicher Songs ausgefeilt wurden. In meinen Augen (bzw. Ohren) liefert Katie Gately mit Color das „(über-)experimentelle, versponnene“ Songwriting-Album, als das Bon Ivers (zugegeben, ganz hervorragendes) 22, A Million mancherorts dargestellt wurde. Mit etwas Vorsicht kann man Miss Gately damit in die Ecke verwandter Pop-Neuschöpferinnen wie FKA Twigs oder Grimes stellen, deren letzte Platten nur vielleicht mehr Pop als Experiment boten, während bei Katie Gately das Verhältnis umgekehrt ist.

Deutlich scharfkantiger als Grimes, knalliger als FKA Twigs, und vor allem weniger verkopft als Holly Herndon… und wer bei der Flaming-Lips-Kollaboration mit Miley Cyrus (Miley Cyrus & Her Dead Petz) den versprochenen Wahnsinn vermisst hat, sollte bei Katie Gately die ersehnten freudig glühenden Ohren bekommen. Dazu darf man gerne die Lautstärke auf ein (für die Nachbarn?) ungesundes Maß aufdrehen. „Not quite ‘industrial’ but I am a massive Public Image Ltd. fan. The dissonance and aggression in the music is the Holy Grail for me,“ sagt Gately im Interview mit Richard Allen. Ja, die wundervolle Verzerrung und Übersteigerung eines Songs wie „Sire“ mit seinen metallischen krachenden Beats zu flippigem Gefieps und Kling und Klang aus allen Ecken und Vokalharmonien obendrein, was in der Summe ein durchaus transparentes Klangspektakel bleibt, das sind fünf von insgesamt 42 Minuten eines der spannendsten Popalben des Jahres mit einem Genres durchdringenden Wahnwitz.

Am besten lässt man sich auf diesen Roman ein, in dem man im Vorfeld nichts darüber liest, Augen weglässt vom Klappen- umd Rückseitentext – und in diesem Sinne erfahren Sie in diesen Zeilen auch nichts über Plot und Protagonisten, ausser, dass der Thriller, mehr, als es solch konventionelle, abgenutzte Formulierungen noch glaubhaft machen, nahezu „unerträglich spannend“ und „kaum aushaltbar noir“ ist. Vergessen Sie für ein paar Tage und Nächte Terminkalender und Zipperlein, Manafonistas und Fahrradfahren, Glühweintrinken und Marmeladebrötchen, vergessen Sie die Welt ringsum, und begeben Sie sich mit grosser innerer Stärke in diesen Vorhof der (irdischen) Hölle, freundlich ausgedrückt. Wenn Ihnen aber mehr nach Thrillern ist, die neben einer spannenden Story auch Humor bereithalten, dann lesen Sie lieber einen alten, neu aufgelegten Roman von Don Winslow, „London Undercover“ – Neil Careys erster Fall.


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