Der finnische Pianist Aki Rissanen (Jahrgang 1980) ist – zumindest namentlich – wahrscheinlich etwas bekannter als sein englischer Kollege Ivo Neame (Jg. 1981), der mit dem dänischen Schlagzeuger Anton Eger unter Leitung von Bassist Jasper Høiby aus Schweden das Trio Phronesis bildet. 2014, zum Zehnjährigen, erschien ihr zweites Live-Album Life to Everything, das genau genommen eher ihr erstes ist, denn bei der Aufnahme von Alive (2010) war Eger unabkömmlich und wurde von Mark Guiliana vertreten.
Phronesis-Album Nr. 6, Parallax, veröffentlichte Edition Records dann im April 2016. Ich kann es nachdrücklich empfehlen, da es mehr noch als ihre vorige Studioalben die kraftvolle, direkte Bandenergie wie bei einem guten Jazztriokonzert auf CD festhält. Mich wundert, dass Phronesis nicht schon weit bekannter sind; sie bestechen mit einem Pop-Appeal, der Rock- und Pophörer doch eigentlich ähnlich überzeugen müsste wie einst das Esbjörn Svensson Trio. Da die Aufnahmen von Parallax im Londoner Abbey Road Studio bald zwei Jahre zurückliegen, bin ich sehr gespannt, was die Jungs als nächstes machen.
Ansonsten kann ich mich nur Roger Farbeys Besprechung auf All About Jazz anschließen:
In truth, Phronesis are one of the most exciting jazz trios around. Although initially bassist Høiby’s brainchild, the band is democratic both in terms of the prominence of all three musicians, each of whom are virtuosos in their own right, and also by the equal sharing of the composing duties. But crucially, the sheer energy that’s generated from this album is simply phenomenal.
Das Trio von Aki Rissanen, den man aus Bands von Verneri Pohjola und Dave Liebman kennen kann, ist dagegen, zumindest auf CD, ruhiger, zurückhaltender, vielleicht darf man sagen: „nordischer“. Ihr Album Amorandum habe ich nicht so häufig gehört wie das von Phronesis; es gefiel mir sehr gut, es hat eine innere Ruhe und eine Klarheit, die man sich auch gut bei ECM vorstellen könnte, aber da ich kann eigentlich nichts Passenderes darüber sagen, als mein Kollege Kleinecke bei Nordische Musik schrieb, überlasse ich ihm hier das Wort:
Die neun Stücke, alle vom Pianisten komponiert, gehen zurück auf einen Soundtrack für einen Animationsfilm von Tuula Leinonen. Strukturell sind die Kompositionen mehr oder weniger offen, drehen sich mal um Ostinato-Figuren oder scheinen in sich zu ruhen. Einflüsse von Minimal Music sind ebenso zu hören wie Impressionismus und nordische Lyrik. Sparsames Spiel ist dem Trio gemein, keiner macht zu viel. Dennoch groovt »AMORANDOM« teilweise stark. Teppo Mäkynen spielt mitunter eher Pulsgeber als herkömmlichen Drummer (»Paysages Pas Sages«), Antti Lötjönen hält alles harmonisch zusammen und spielt einige Soli, die so kaum ein Bassist spielen würde. Rissanen selbst hat hörbar klassische Ausbildung, auch lässt er seiner nordeuropäischen Herkunft ihren Raum. Er beherrscht die Kunst der kontrollierten Offensive perfekt, kann allerdings auch herrlich swingen wie in »For Jimmy Giuffre«.
Das finnische Quintett Oddarrang ist ebenfalls eine vielseitige, funkensprühende Truppe. Ich muss allerdings sagen, dass sie mir vor ihrem aktuellen Album, ihrem vierten, nicht wirklich vertraut waren. Agartha, Ende September erschienen, ist wohl deutlich rockorientierter als ihre vorigen CDs, ich würde es sogar eher als Postrock bezeichnen, mit seinen synthiemäßig emotionalisierten, hymnenhaften Melodien und den bis elfeinhalb Minuten langen Stücken (insgesamt fünf) so in etwa in der Ecke von Sigur Rós zu verorten, mit einer Spur mehr treibendem Jazzgroove allerdings. Der Titel ist (natürlich) ein Verweis auf Miles Davis’ Agarta (1975) betiteltes Livealbum, da Miles für den Bandleader und „spirituellen“ Schlagzeuger Olavi Louhivuori einen grundlegenden Einfluss auf das Musikmachen zwischen den Genres und weg vom Jazz ausübte, im Interview bestätigte:
Ich würde sagen, dass 85% von dem was ich mache mehr oder weniger Jazz ist, während meine Solosachen elektronischer, experimenteller sind, und Oddarrang nicht länger Jazz ist. Ich würde sagen, es ist ein experimentelles, instrumentelles Etwas… wenn ich es kategorisieren müsste.
Ich persönlich bin mit Agartha nicht so recht warm geworden, aber Leute, deren Meinung ich schätze (Kleinecke wiederum vergab zahlreiche Sterne), sind begeistert; deshalb möchte ich es hier trotzdem erwähnen. Ähnlich ambivalent zwischen Jazz, Fusion und Rock war 2016 auch das Album Dream Keeper von Gitarrist André Fernandes aus Lissabon, der schon mit Lee Konitz und Tomasz Stanko gespielt hat, nicht durchweg gelungen vielleicht, aber dennoch hörenswert.
Dave Stapleton sagte im Gespräch mit All About Jazz auch, dass ihm das Vermeiden von Kategorien wichtig sei und er dagegen ankämpfen möchte. Die beiden letzten Edition-Alben des Jahres 2016 erscheinen noch in dieser Woche, und sie verdeutlichen diesen Anspruch:
The Space Between von den miteinander befreundeten britischen Gitarristen Stuart McCallum und Mike Walker, ist ein durchaus ungewöhnliches, aber ambitioniertes Gitarrenduoalbum, auf dem vier der neun Stücke mit einem Streichquartett aufwarten. Während McCallum, der auch auf dem Album All Things von Slowly Rolling Camera mitwirkte, sich auf akustische Gitarre (mit Elektronik) beschränkt, spielt Walker die elektrische. Er war übrigens schon Teil von Kenny Wheelers Bands, von dem bei Edition wiederum vor ein paar Jahren ein Album mit Norma Winstone erschien (soviel zum Vergleich mit ECM…).
Es gibt drei eigenwillige Interpretationen fremder Komponisten: Burt Bacharachs und Hal Davids Alfie, das ruhigste Stück hier, erinnert tatsächlich an manche ECM-Gitarrenplatte, My Ideal hat schon Sonny Rollins gespielt, und dann führen die beiden Gitarristen ihre spannende Verbindung aus Jazz und Kammermusik mit dem 3. Satz von Debussys Streichquartett (g-moll, 1893) sozusagen bis in die letzte Konsequenz weiter. Der Rest sind eigene Stücke von McCallum. Die Art von Gitarrenspiel, wie es die beiden Herren auf The Space Between praktizieren, ist nicht gerade meine bevorzugte Musik, aber was Stuart McCallum und Dave Stapleton hier im Wood Room der Real World Studios fabriziert haben, finde ich doch sehr faszinierend und anregend.
Auch in dieser Woche erscheint Subterranea, das Debüt eines durchweg sehr jungen Sextetts namens Mosaic unter Leitung des britischen Vibrafonisten Ralph Wyld, Gewinner des Kenny Wheeler Jazz Prize 2015, der zudem alle Stücke geschrieben hat. Das Ensemble setzt sich zusammen aus Trompete/Flügelhorn, Klarinette, Cello, Kontrabass und Schlagzeug/Perkussion. Auch diese Art von Jazz gehört sonst eigentlich nicht zum engeren Kreis meiner „Lieblings-Stile“, aber es lädt ein, die vier zwischen achteinhalb und zwölfeinhalb Minuten langen Stücke (plus zwei längere Interludes und eine Reprise) eingehender zu erfahren, und hier beeindruckt mich ebenfalls, wie fantasievoll Musik aus den Linien Wheeler, Steve Reich (das erste Stück zitiert direkt City Life), Gil Evans und Dave Holland verbunden werden. Improvisation meets Minimal Music.
Eine reizvolle Mischung und einen geglückten Querschnitt durch zwölf Edition-Alben der jüngeren Zeit erschien im Frühjahr unter dem Titel Northern Edition. Kuratiert von BBC-Autorin und -Moderatorin Fiona Talkington gibt es hier einen leichten Schwerpunkt auf skandinavischen Künstlern, darunter einigen, deren Alben mir in den Vorjahren bereits gefallen haben: Drifter (ehem. Alexi Tuomarila Quartet), die auf ihrem Neustart-Album Flow eine eigenwillige Kreuzung aus Jazz und Pop vorgelegt haben, Phronesis, Spin Marvel (ein Quintett mit Nils Petter Molvær, Tim Harries, John Parricelli u.a.), Daniel Herskedal (sein tolles Album Slow Eastbound Train war „CD des Monats“ bei Nordische Musik im Mai 2015), das feine Alexi Tuomarila Trio mit Mats Eilertsen und Olavi Louvihuori, sowie Marius Neset und Verneri Pohjola, beide Alben ebenfalls von Tim J. Kleinecke hochgelobt (ich selbst habe die beiden CDs nicht gehört). Es gab wenige Alben bei Edition im Jahr 2016, die ich nicht empfehlen könnte. Ich bin sehr gespannt, wie es 2017 weitergeht. Als erstes erscheint im Januar Godspeed von Morten Schantz, das als „a 21st Century Weather Report in its most original and creative form“ angepriesen wird.