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2016 20 Nov.

Eine Lanze für Edition Records (1/2)

von: ijb Filed under: Blog,Gute Musik | TB | 2 Comments

Es gibt nicht nur ECM. Der Jahresausklang ist mal ein guter Zeitpunkt, eine Lanze für Edition Records zu brechen. Seit 2008 veröffentlichte das in England (Berkshire) und Wales (Cardiff) beheimatete Label etwa 80 Alben. Gegründet hat Edition Dave Stapleton, der selbst in mehreren Gruppen spielt, die wiederum zum Teil in sehr unterschiedlichen Richtungen zu verorten sind. Ein leidenschaftliches Exempel, das recht gut für seine gesamte Labelarbeit steht, ist das in diesem November erschienene Album All Things der Band Slowly Rolling Camera, die Stapleton seit vier Jahren mit der Sängerin und Texterin Dionne Bennett führt. SRC haben 2014 ein Debütalbum ohne Titel und 2015 eine EP aufgenommen. Mit ihrem kraftvollen All Things steht die Gruppe für einen Typ Stilgrenzen ignorierender Musik, der mich immer zu Hören erfreut. Manche haben SRC mit Massive Attack verglichen, wahrscheinlich wegen der dunkelhäutigen Sängerin mit vollem Lockenhaar und ebenso voller Soul-/Gospelstimme, doch der Vergleich ist ein arg hinkender, vor allem, wenn man bedenkt, wo Massive Attack klanglich und stilistisch stehen – von den Soulnummern ihrer ersten beiden Alben abgesehen. Auf dem Facebook-Profil von Slowly Rolling Camera nennt die Band Cinematic Orchestra, Oddarrang, Portishead, Radiohead, Zero 7 und 4 Hero als Inspiration und Vorbilder, was vielleicht ein wenig hilft, den Stil greifbar zu machen.

 

 

All Things ist eher eine manchmal berauschende, etwas dunkel bluesige Soul-Jazz-Popmusik, teils mit Streichquartett, teils mit mehreren Bläsern (u.a. Laura Jurd), vor allem mit vielen schönen Perkussionsinstrumenten. Dionne Bennett wird von Stapleton (der auch die Albumfotos geschossen hat) als Gesicht der Band präsentiert, denn außer ihrem Konterfei, prägnant auf dem Cover und uns schemenhaft aus dem Schwarz des Rückcovers anblickend, zeigt das CD-Design keine weiteren Mitglieder. Co-Produzent ist Deri Roberts, der laut der Edition-Webseite für „Sound Design“ und „Elektronik“ verantwortlich zeichnet, im CD-Beiheft aber mit einer ganzen Reihe Perkussion (und einiger Instrumente, die ich erst einmal googeln müsste, um zu wissen, was er da genau spielt: Calabash, Cuica, Udu, Cabasa, Pandeiro, Ribbon Crasher …) gelistet wird. Als Schlagzeuger ist Elliot Bennett dabei, der ebenfalls alle möglichen Perkussionsinstrumente einsetzt.

Dionne Bennett hat eine eindrucksvolle stimmliche Präsenz, sie vermag also durchaus einige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (gerne würde ich die Band mal im Konzert erleben), aber das gesamte Album ist musikalisch komplex mit zahlreichen Gastmusikern. Die Band verweist auf einen „demokratischen Schaffensprozess“, und das glaube ich ihnen aufs Wort. Einen schönen Gastauftritt bekommt im abschließenden kurzen Titelstück übrigens Dee Dee Bridgewater, die nur den Bandnamen spricht, als Sample in den Rhythmus integriert.

Edition Records haben im Jahr 2016 sechzehn CDs herausgebracht, von denen die allermeisten als „Jazz“ durchgehen, doch regelmäßig nehmen Grenzüberschreitungen zu anderen Genres eine tragende Rolle bei Edition ein, wie etwa bei Oddarrang, Mosaic, Drifter oder Girls In Airports.

Viel gelobt wurde auch das eklektische erste Album von Laura Jurds Quartett Dinosaur, das seit sechs Jahren miteinander spielt. The Guardian hat Together, As One in seiner 5-Sterne-Besprechung mit In A Silent Way verglichen, offenbar weil Laura Jurd Trompete spielt und wegen der Keyboardsounds (Hammond und Rhodes). Aber auch hier kann man das Album zwar als Jazz kategorisieren, aber die acht Stücke, die bis zu neuneinhalb Minuten lang gehen, grasen mancherlei Stile mit ab – ein bisschen Fusion, ein bisschen elektronischen Pop, mal eine altmodisch gestopfte Trompete mit heiterer Kirmesmusik und fast breakbeatartigem Fundament … Mit Laura Jurd und ihren drei jungen Kollegen kann man sich von einigen fantasievollen Wendungen überraschen lassen. “That’s pretty much punk rock by jazz standards …” sagte Nick Luscombe im BBC-Radio. Finde ich eine schöne Zusammenfassung des Albums.

 

 

Dave Stapleton hat zwar in Wales klassisches Piano studiert und sich seit seinem Abschluss 2002 einen Namen in der britischen Jazzszene erarbeitet, doch er betont, dass es ihm nicht behage, einem der beiden Lager zugeordnet zu werden. Vor ein paar Jahren sagte er im Interview mit All About Jazz, dass es ihn geradezu in Schrecken versetze, mit jedem Auftritt exakt die gleichen Noten spielen zu müssen.

 

From a composer’s point of view I’m thinking on a much larger scale than most jazz composers do. So I don’t see myself as either. I try not to pigeonhole myself. I don’t see myself as a jazz musician: I don’t play bebop; I don’t play in lots of bands. I don’t want to do that. I’m somewhere in the middle: a European improvising composer/pianist. Somewhere in between jazz and classical: but there’s no terminology for that.“ 

 

Einige der Veröffentlichungen seines Labels im Jahr 2016 können diesen Anspruch treffend unterstreichen.

Bei Nordische Musik haben wir in diesem Jahr zwei Mal ein Album von Edition Records zum „Album des Monats“ gewählt: Im Mai Per Oddvar Johansens Trio mit Let’s Dance und im Juli Eyolf Dales Ensemblealbum Wolf Valley.

Den Schlagzeuger Per Oddvar Johansen kennt man ja als Sideman von unzähligen Platten, nicht zuletzt bei ECM, doch überraschte, dass er erst jetzt ein eigenes Album gemacht hat. Mit Helge Lien, sonst oft mit recht versierten, aber auch mal zu glatten Jazzalben in Verbindung gebracht, und dem eher im experimentellen Bereich verankerten Saxofonisten Torben Snekkestad konnte Johansen einen spannenden Mittelweg finden. Der Kollege Tim Jonathan Kleinecke schrieb in seiner Besprechung für Nordische Musik über Let’s Dance:

 

Er drängt sich und sein Schlagzeug aber keinesfalls auf, es sind eher die kleinen Gesten, die seine Meisterschaft verraten: Man folge der Besenarbeit in »Panorama«! Ab und zu spielt er Violine, Vibraphon oder Electronics, aber lediglich als Klangtupfer. Außer auf »Uluru«: Da greift er gar zur Gitarre, schrammelt ein paar Akkorde – als wenn sich Neil Young und Sonny Landreth nach einer durchzechten Nacht wortlos am Seeufer treffen. Aufgenommen haben sie übrigens in Sjur Miljeteigs Studio mitten in einsamen schwedischen Wäldern, fernab von allen Ablenkungen. Dort kann solche Musik entstehen, wenn man denn eine Klangvision hat wie Per Oddvar Johansen.

 

Zu Eyolf gibt es von meiner Seite eine etwas persönlichere Verbindung: Ich war in der Funktion als Filmemacher im April 2014 mit ihm als Teil des Hayden Powell Trios auf einer Tour durchs schöne Westnorwegen und im Februar 2015 im Studio The Village in Kopenhagen bei den Aufnahmen zum aktuellen Album des Trios, woraus ich mehrere Videos geschnitten habe. Entsprechend gespannt war ich, was der Pianist mit einem Oktett anstellen würde. Das erste Album mit Hayden Powell (The Attic) war ein Sextett (bzw. das um drei Gäste erweiterte Trio), das mir etwas zu konventionell erschien, aber ansonsten ist Eyolf eher bekannt für sein experimentelles Duo mit dem Saxofonisten André Roligheten (der wie Hayden Powell auch auf Wolf Valley mitspielt), Albatrosh, von dem bislang sechs Alben, teils mit Gästen oder dem Trondheim Jazz Orchestra, erschienen sind. Ich bin sonst nicht direkt ein Liebhaber von größeren Jazzensembles, aber Eyolf nutzt seine Gruppe auf eine Weise, die mir meist eher zusagt: subtile, fantasievolle Kompositionen und geschicktes Austarieren der einzelnen Instrumente mit eher reduzierterer Lautstärke. Wolf Valley hat mich dann zwar nicht durchweg begeistert, aber reizvoller als Eyolfs vorige Soloalben ist es allemal. Aufgefallen ist mir 2016 mehrfach der Vibrafonist Rob Waring, der in ein paar Tagen schon 60 wird. Er wurde zwar in New York geboren, lebt aber seit 35 Jahren in Norwegen, wo er seither in vielen interessanten Projekten mitgewirkt hat. Nach Wolf Valley ist er mir 2016 auch als Teil von Mats Eilertsens ECM-Ensemblewerk Rubicon und im höchst reizvollen Avantgarde-Projekt Filosofer (Nakama Records) aufgefallen. Das einzige, was ich an Eyolfs Album etwas unpassend finde, ist das verschneite Covermotiv. Ein helleres, sonnigeres hätte besser gepasst.

Drei weitere Edition-Alben, die wir bei Nordische Musik als mögliche „Alben des Monats“ diskutiert haben, waren im März Aki Rissanens Amorandum und im April Parallax von Phronesis, beides sehr empfehlenswerte Pianotrios, sowie im Oktober Oddarrangs Agartha.

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2 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Temps des surprises …

    Je ne suis pas trainee de parler le francais …

  2. Michael Engelbrecht:

    Der Name Slowly Rolling Camera müsste dich ja allein schon ansprechen. Auf jeden Fall möchte ich mir da mal einiges zukommen lassen, Die Horizonte bleiben ja auch im nächsten Jahr geöffnet, wenn mich die Wunderwelt des Meeres nicht nach dem zweiten Badeunfall in kurzer Zeit hinabzieht:)

    Humpelgruss aus der Bretagne!


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