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on life, music etc beyond mainstream

2016 4 Nov

Über Wolf Biermann

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 6 Comments

Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit – unvergessliche Verszeile des Barden Biermann, dem unsereins einst mit gemischten Gefühlen begegnete, jedoch auch Positives abgewinnen konnte. Anders als etwa der Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino, der gerne auf leisen Sohlen umherflaniert in seiner „Schule der Besänftigung“, kam der Wolf stets laut daher und erntete dafür Applaus: Gut gebrüllt, Löwe! Wo sind denn heute jene, die dem System so klar die Pranke zeigen?

Erste Eindrücke kamen von einem Schulfreund, der Konkret lesend, Ente fahrend, Gauloises rauchend, eben auch Besitzer aller Biermann-Alben war. Zwar nicht wirklich meine Musik, doch dessen Persona im Spannungsgefüge des geteilten Deutschland, stimmungsmässig in den Nachwehen des Nazireiches verhangen, hatte Charisma. Auch einer obrigkeitskritischen Haltung, mit Revoluzzerromantik gewürzt, kann man in Zeiten gnadenloser Globalisierung, in denen Dichotomien wie „links und rechts“, „gut und böse“ so simpel nicht mehr greifen, noch etwas abgewinnen. Es bleibt Fakt: die Kluft zwischen Armen und Reichen alleine schon treibt jedem Anständigen unter uns die Schamesröte ins Gesicht, mehr als je zuvor. Und die im Dunklen sieht man nicht: das Kapital mit seinen Fluchten und Verflüchtigungen.

Ein Livekonzert des DDR-Barden, damals mit der Aura des frisch Ausgebürgerten umgeben, blieb im Gedächtnis hängen: neben unzweifelhaften Entertainerqualitäten, zudem als ein Kronzeuge des Zeitgeistes auftretend, fiel mir vor allem auch seine Art des Gitarrenspiels auf. Diese Raubeinigkeit gefiel mir: wie ein Baselitz an den Saiten ging er zuwerke, abrupt oft und doch sensibel. Wenn ich Monk zuweilen höre oder Derek Bailey, denke ich stets an dieses klasse Klampfenspiel im biermannesken Klassenkampf zurück.

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6 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Dieses denkwürdige Konzert (in Köln oder der Westfalenhalle?), nach welchem s i e ihn nicht mehr zurückliessen, bleibt eingebrannte Erinnerung, da denkt manch gleich auch an Lindenberg und Honecker, und einen stramm-verklemmten Kleinstaat voller Spitzel.

    Aber als dann, später, ein Fussballer (wie hiess er noch gleich?) einfach hier blieb, und ein Spiel zur Flucht nutzte, hetzte man ihn auf einer Landstrasse in den Tod. Darüber sah ich vor Jahren eine Reportage, der Fall war klar, die Täter leben womöglich heute unter uns, Schergen des SED-Regimes. Genau, Lutz Eigendorf war das Opfer.

  2. Uwe Meilchen:

    „Das“ Biermann Konzert war in Köln und der DDR Fußballer war Lutz Eigendorf – kann da mit sachdienlichen Hinweisen dienen, ich lese die Biermann Biographie gerade!

    Man liest viel Ungeheuerliches in der Biermann Biographie, die gerade erschienen ist; auch, dass Häftlinge in der DDR durch Wände im Gefängnis hindurch mit hochgradig gesundheitsschädlichen Röntgenstrahlen „beschossen“ wurden.

  3. Michael Engelbrecht:

    Eine gute deutsche TV-Serie, etwas später angesiedelt, in England ein Renner, hierzulande wenig wahrgenommen: „1983“. Nicht die Klasse von THE AMERICANS, aber sehenswerter als 95 der letzten 100 Tatorte :)

  4. Michael Engelbrecht:

    Witzigerweise habe ich ungefähr die gleiche Wahrnehmung von Biermann wie Joey.

    Eine Platte hatte ich von ihm, irgendwas mit „Chausseestrasse“. Klang so, als säße man in seinem Wohnzimmer.

  5. Jan Reetze:

    @ Uwe: So hat man erreicht, dass die Leute an Krebs starben, ohne dass man je die Ursache nachweisen konnte. 1989 wurden die Geräte u.a. im Stasi-Hauptquartier entdeckt; zunächst kam überhaupt niemand darauf, wozu die gebraucht worden sein könnten. Der Schock war dann um so größer. (Auch für mich damals — als ich nämlich nach 1989 zur Kenntnis zu nehmen hatte, wie oft der Löwenthal in seinem ZDF-Magazin doch recht gehabt hatte.)

    Wolf Biermann, ja … Über seine Dichtkunst lässt sich trefflich streiten, seine Selbstgefälligkeit war ebenso schwer zu ertragen wie sein Gesang, und geschäftlich hat er seine Situation immer sehr clever ausgespielt. Und doch war er einer der wenigen, an denen man tatsächlich nicht vorbeikam. Ob ich seine Autobiographie lesen muss, habe ich noch nicht entschieden, aber neugierig bin ich schon …

  6. Wolfram Gekeler:

    Vielleicht ist es eine gute Alternative, die neueste der Rio-Reiser-Biographien zu lesen. Aus einem Konzert mit ihm kam man emotional aufgedreht, revolutionär unternehmungslustig; bei Biermann bekam man stets ein schlechtes Schlechter-Genosse-Gewissen. Die Besserwisserei nervte. Und doch ging man hin, wenn er in der Nähe auftrat. Tragisch, dass in den späteren Jahren seine Äußerungen ziemlich abstrus wurden.


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