Herman Melville: Moby-Dick
Schon öfter habe ich meine Schüler mit der Erzählung Bartleby von Herman Melville (1856) verblüfft, eine Geschichte von einem Totalverweigerer. Sein andauerndes I would prefer not to … ( „Ich möchte lieber nicht …“ ) provoziert scheinbar dermaßen, dass es meinerseits ein rechtes Vergnügen ist zu erleben, was 150 Jahre alte Literatur noch alles vermag. Ein wunderbares Büchlein, welches in den verschiedensten Ausgaben erhältlich ist, die schönste ist sicher die 2005 in Steidl-Verlag erschienene und mit einem Nachwort von Wilhelm Genazino versehene Ausgabe.
Die 1954 entstandene, unter der Regie von John Huston beeindruckend in Szene gesetzte Verfilmung des Romans Moby Dick (von Melville 1851 veröffentlicht) – in der Hauptrolle des fanatischen Kapitän Ahab übrigens Gregory Peck – hat mich immer wieder dazu angeregt, doch endlich einmal dieses Hauptwerk Melvilles zu lesen. Im gerade zu Ende gehenden Sommer war es dann soweit. Die Ausgabe in der Neuübersetzung von Mathias Jendis schien mir die geeignetste, um das Werk anzugehen. Ich wurde nicht enttäuscht, die Übersetzung ist großartig. Die 1041 Seiten umfassende Dünndruckausgabe enthält neben dem eigentlichen Romantext (866 Seiten) ein Glossar ausgewählter nautischer Begriffe, fast 100 Seiten Anmerkungen, darin enthalten: kultur- und literarhistorische Anmerkungen zum Romantext, Zitate aus Melvilles Briefen, Tagebüchern und Bezüge zu seinen anderen Werken; es findet sich auch eine ausführliche Zeittafel zur Biographie Melvilles. Das Buch umfasst 135 Kapitel und, wer nun auf Grund der Kenntnis der Verfilmung des Buches glaubt, ein Abenteuerschmöker lesen zu können, wird recht bald eines besseren belehrt. Bevor unser Walfangschiff ablegt, vergehen schon einmal fast 200 Seiten.
Aus der Sicht des Matrosen Ismael erfahren wir zunächst einmal alles über das Gasthaus „Zum Walfänger“, über den unheimlichen Zimmergenossen Ismaels, den Harpunier Queequeg, das Frühstück, den Abschiedsgottesdienst – die komplette Predigt wird dem Leser präsentiert -, das Anheuern auf der Pequod, natürlich ausführliche Beschreibungen des Walfängers und Personenbeschreibungen in einer Breite, wie ich sie ansatzweise schon in dem oben genannten Büchlein Bartleby gelesen habe. Oft musste ich während des Lesens an das Buch Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman (1759-1767) von Laurence Sterne denken, auch hier will und will ja die Handlung nicht weitergehen und der Leser denkt: „Hallo, was passiert hier eigentlich?“
Es passiert wirklich nicht viel, jedenfalls solange nicht, bis es dann am Ende des Romans, ab S. 824 zur Jagd auf Moby Dick kommt. Aber, was lernt der Leser nicht alles in diesem Meisterwerk über den Walfang in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, über Wale überhaupt, die unterschiedlichen Unterordnungen des Wales, seine Lebensart, seine Anatomie, seine Farbe – unglaublich etwa die 13 Seiten über das Weiß des Wals und die „Farbe Weiß“ als solche – seine Verarbeitung, über Tranöfen, Lampenöl, über Festfisch und Losfisch, Theologie und Philosophie, Exkurse über Exkurse. Und doch, das Buch fesselt, die Sprache begeistert, was für ein tolles Buch! Herman Melville starb 1891, den Erfolg seines Buches Moby-Dick konnte er nicht mehr erleben …