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2016 11 März

Gregor öffnet seinen Bücherschrank

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 6 Comments

David Mitchell. Die Knochenuhren
 
 
Gleich zu Anfang: ich gebe es zu, ich schätze David Mitchell sehr und freue mich auf jedes neue Buch von ihm. Der 1969 in Southport, Lancaster, geborene Mitchell spricht generationsübergreifend die Menschen an, gefällt also nicht nur mir, sondern begeistert auch meine Schüler, deshalb lesen wir dieses jüngste Buch des Meisters im Moment auch im Literaturkurs der Klasse 13. Doch nun zum Buch selbst: Die Knochenuhren.

Wie Der Wolkenatlas, aber auch Mitchells Erstlingswerk Chaos, spielt auch Die Knochenuhren auf verschiedenen Zeit- und Erzählerebenen. Vom 30.6. bis zum 2.7.1984 erzählt uns die fünfzehnjährige Holly Sykes entscheidendes aus ihrem jungen Leben. Dann springen wir in das Jahr 1991, Geschichtenerzähler ist nun der Student Hugo Lamb, der im dritten Teil des Buchs, im Jahr 2004, von Brubeck, Journalist in Kriegsgebieten und Holly´s Ehemann abgelöst wird. Dann kommen wir in die jüngst vergangene Gegenwart, ins Jahr 2015, Crispin Hershey ist jetzt unser Erzähler, ein Dichter, ein Autor, dessen schöpferische Kraft versiegt und der nun ums Überleben kämpfen muss.

Übrigens, anders als im Wolkenatlas, begleitet uns Holly durch alle Buchteile hindurch, sodass wir am Ende des Buches vor ihrem Lebenspanorama stehen und die Lebenszeit eines Menschen vom 15ten Lebensjahr an bis ins hohe Alter betrachten können.

Der fünfte Teil spielt 2015, die Erzählerin ist Dr. Iris Mariunus-Fenby, eine Ärztin. Wahrscheinlich hat sich Mitchell auf Grund dieses Kapitels, es ist der weitaus längste Teil des Buches, den Winner of the World Fantasy Award geholt, mehr wird hier nicht verraten. Der letzte Teil der „Knochenuhren“ spielt 2043, Erzählerin ist wiederum Holly Sykes, jetzt aber im hohen Alter. Wir befinden uns in Irland, die Zivilisation ist am Ende, die westliche Welt heruntergewirtschaftet, die Umwelt restlos und irreparabel zerstört, überall herrscht Armut und Hunger, wer kann, flieht, etwa als Wirtschafts- oder Klimaflüchtling nach China.

 

Holly sagt am Ende ihres Lebens:

Ich und meine Generation haben uns sinnlos vollgefressen im Restaurant der Reichtümer dieser Erde und die Zeche geprellt, obwohl wir – trotz allen Leugnens – genau wussten, dass wir unseren Enkeln eine Rechnung hinterlassen, die sie nie werden bezahlen können.“

 
 
 

 
 
 

Es ist natürlich keine Frage, dass Mitchell die jeweilige Zeitepoche wieder perfekt sprachlich, politisch, wirtschaftlich und kulturell darstellt. Und dabei spielt natürlich auch die Musik eine große Rolle (das ist aber eine andere Geschichte, siehe der nächste Plattenschrank).

Am letzten Wochenende habe ich mit größtem Interesse einmal mehr die Kolumne von Caroline Emcke in der Süddeutschen-Zeitung gelesen. Es ging um Bildung, um Schule, ums Denken lernen. Emcke zitiert zu Anfang ihres Artikels den französischen Philosophen und Literaten Paul Valéry: „Denken ist unablässiges Durchstreichen“ , schrieb er. Der Satz hat bei mir gesessen, genau so ist es, dachte ich. Denken verlange demnach, schreibt Carolin Emcke weiter, „das zuvor Gedachte nicht unangetastet zu lassen, als sei es heilig, sondern es permanent neugierig und skeptisch zu betrachten. Denken als „unablässiges“ Durchstreichen verweist also auf die Notwendigkeit, bisher sicher geglaubte Erkenntnisse oder auch lieb gewonnene Gewohnheiten immer wieder zur Disposition zu stellen und, bei Bedarf, zu korrigieren.“

Genau das führt uns David Mitchell in seinen Büchern vor und er schafft das, indem er uns zurücktreten lässt, und eine Gesamtschau auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges ermöglicht und uns dadurch zur Korrektur, zur Umkehr zum „Durchstreichen“ bewegen könnte. Mitchells berühmtestes Buch Wolkenatlas spannt den Bogen beginnend 1849 über 1935, 1973, 2044, 2144 bis ins 24 Jahrhundert, Die Knochenuhren stellen ein Lebenspanorama vor, vom 15ten Lebensjahr der Protagonistin, bis in ihr hohes Alter.

Und Mitchell hat natürlich auch wieder in seinem jüngsten Roman, Verbindungen nicht nur zwischen den einzelnen Zeitaltern hergestellt, sondern, auch das kennen wir schon aus Vorgängerromanen, hat auch Verschränkungen zu früheren Romanen hergestellt. Immer wieder begegnen wir vertrauten Figuren aus früheren Romanen. Kürzlich las ich, dass zwanzig Figuren aus den „Knochenuhren“ bereits im „Wolkenatlas“ vorkommen. All das ist aber keine Spielerei, Mitchell wird nämlich nicht müde, dem Leser klar zu machen, dass alles miteinander zusammenhängt, dass die Sklaverei im 18 Jahrhundert, der Kolonialismus der letzten Jahrhunderte, der Rassismus, der gnadenlose, nur am Gewinnstreben orientierte Kapitalismus, die Ausbeutung der Natur nicht einfach irgendwann einmal die Welt beherrscht hat und dann war´s das, nein, all das hat bis in unsere Gegenwart Auswirkungen und wird auch unsere Zukunft bestimmen.

Und so wird es für mich besonders deutlich in Der Wolkenatlas, in Die tausend Herbste des Jacob de Zoet und jetzt wieder in Mitchells jüngstem Roman Die Knochenuhren: Denken ist „unablässiges Durchstreichen“, wir haben es in der Hand, was aus dieser unserer Welt wird, nichts ist egal, was wir uns erträumen, was wir wollen und umsetzen, das ist wichtig. Wir sollten dann aber auch vielleicht manchmal Gewohntes in Frage stellen, sicher geglaubte Erkenntnisse zur Disposition stellen.

„Wenn wir wirklich glauben, dass die Menschheit sich über Klauen u. Zähne erheben kann, wenn wir wirklich glauben, dass unterschiedliche Rassen u. Glaubensbekenntnisse diese Welt so friedlich miteinander theilen können wie die Waisenkinder ihren Kerzenölbaum, wenn wir wirklich glauben, daß Führer gerecht sein müssen, Gewalt geächtet gehört, Macht verantwortet werden muß u. die Reichthümer der Erde u. ihrer Oceane gerecht vertheilt werden sollen, dann wird eine solche Welt auch zustande kommen.“ (Zitat Adam Ewing 1849, Tagebuchaufzeichnung – aus: Der Wolkenatlas).

So, ich denke, ich habe nichts vorweggenommen, Sie werden dieses Buch verschlingen, als wäre es ein außerordentlich spannender Krimi. Für mich war es allerdings schon etwas gewöhnungsbedürftig, auf der einen Seite grandiose realistische Literatur zu lesen, die uns während etwa 600 der über 800 Seiten geboten wird, dann aber auch Fantasy, mag sie auch wirklich sehr gut sein. Wer Mitchell einmal kennenlernen will, er kommt in ein paar Tagen nach Deutschland, dieses Mal leider nicht nach Stuttgart, er liest am 15.03. in Köln im WDR Funkhaus, am 16.3. in Frankfurt im Literaturhaus und am 16.07. in Zürich.

 

Der Roman Die Knochenuhren erscheint heute in deutscher Sprache.

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6 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Eine Leseprobe findet der Interessierte ja hier am 10. März, wenn er mit Doppelklick auf das Foto geht. Ich habe die ersten Sätze von Seite 225 schamlos plagiiert, und werde Mr. Mitchell in Köln dafür Rede und Antwort stehen, Gregs! :)

    Kennst du das Stück von Toru Takemitsu? Von S. 525, aus dem ich AFTER THE FLOOD gemacht habe?

    Brian (begeisterter „Wolkenatlas“-Leser) schrieb mir heute eine Mail, u.a., dass er Julia Holters HAVE YOU IN MY WILDERNESS sehr beeindruckend finde – ich antwortete ihm, dass ich stets gespannt sei auf die Alben von ihr, hochinteressante Interviews, aber der Funke bislang nicht überspringe.

    Seine „Julia“ sei meine „Joanna“: DIVERS.
    Also „sang“ ich ihm ein kurzes Loblied auf Joanna Newsom.

    Mit der Mischung aus FANTASY UND REALISMUS habe ich gar keine Probleme.
    Ich war in den Highlands, mein Guter, ghosts everywhere …

  2. Uwe Meilchen:

    Geister, Highlands … – da muss ich sofort an den armen Heathcliff und Kathy denken. („Wuthering Heights“). Und was die Geister in den highlands angeht, in Island haelt die Bevoelkerung ja den Glauben an Elfen, Geister und andere Wesen (die Muminfamilie …) aus anderen Sphaeren noch viel mehr aufrecht !

  3. Michael Engelbrecht:

    Einen Troll namens Vincent treibt sch sogar auf unserm Blog rum.

    Und ich dachte, die gäbe es nur in Norwegen …

  4. Gregor:

    „From Me Flows What You Call Time“ heißt das Stück von Toro Takemitsus, das Mitchell auf S.525 erwähnt. Das Stück ist auf der CD From Me Flows What You Call Time / Twill by Twilight von 1997. Ich kenne das Stück nicht, habe mir aber die CD bestellt.

  5. Lajla:

    Dieser Text inspiriert.

    Ja, wie denken wir? Mit all dem Wissen, das wir immer wieder und wieder denken. Husserl lehrte das Ausklammern, hier ist vom „Durchstreichen“ die Rede. Ich mache die Erfahrung, dass ich situativ bedingt, Anderes/Fremdes neu denken kann.

  6. Jan Reetze:

    „Denken als „unablässiges“ Durchstreichen verweist also auf die Notwendigkeit, bisher sicher geglaubte Erkenntnisse oder auch lieb gewonnene Gewohnheiten immer wieder zur Disposition zu stellen und, bei Bedarf, zu korrigieren.“ — Das nennt man *leben*, liebe Frau Emcke.

    Ansonsten kenne ich David Mitchell bis jetzt nicht. Klingt so, als sollte ich das mal ändern.


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