Ich mag keine Erinnerungsgegenstände. Es ist auch kein Erinnerungsgegenstand. Ich kann mich an kein Gespräch mit V erinnern. Vielleicht habe ich ihn einmal darum gebeten, mir die Teedose vom obersten Regal zu reichen, denn alle in dieser WG waren größer als einsfünfundachtzig. S hatte zwei kleine Zimmer, die miteinander verbunden waren, ein düsteres nur mit einer winzigen Luke an der Decke, durch die wir nicht hinausschauen konnten, und eins mit Blick auf eine stark befahrene Straße. J war der Linguist, er fing beim Frühstück damit an, über seine aktuellen Forschungen zu reden und fragte uns, wie wir dies oder jenes grammatikalisch korrekt ausdrücken würden. V stand frühestens gegen Mittag auf. Er studierte etwas Unverbindliches, wahrscheinlich Soziologie, aber eigentlich saß er mit seiner Freundin in seinem Zimmer, rauchte dope und sie hörten die ganze Zeit Musik. Er hatte dunkelgrün gestrichene IVAR-Regale, mit vielen Schallplatten und wenigen Büchern, und die Blätter, die gelb von seinem Ficus Benjamini fielen, hob er nie auf, so dass sich um den Baum ein Kreis herabgefallener Blätter bildete. V hatte immer körperlich anstrengende Jobs, er war sich für nichts zu schade und schien vor nichts Angst zu haben, nicht einmal vor der Zukunft. S und ich hörten Pink Floyd und Velvet Underground, während V eine Richtung einschlug, die ich schwieriger, interessanter fand. Ich bat S darum, mir etwas zu überspielen, was charakteristisch für V´s Musikgeschmack war. So kam ich an diese 90er Audiokassette. A-Seite: Us3 – Hand on the Torch, B-Seite: Sonic Youth – Go. Ich brauche eine bestimmte Stimmung, das zu hören, eine bestimmte Kraft, denn es ist anstrengender als beispielsweise Only Sky, für mich jedenfalls. Und natürlich verändert es, immer, uns. Wolf Kampmann schreibt in der Jazzthetik 1994 über die Magie der Kunst (und das gilt nicht nur für die Musik), die Gesetze, denen man folgen will, selbst aufzustellen, und er zitiert Thurston Moore, der Tape-Aufnahmen mag und sagt: „Je zufälliger ein Album klingt, desto besser.“ Das letzte Stück aus dem Album Washing Machine heißt „Diamond Sea“, ich habe es eben zum ersten Mal gehört, leider nur sehr leise. Zwanzig Minuten lang nicht fassbare Rätsel und Verbindungen. Time takes ist crazy toll.
2015 7 Dez
Beim Blättern in alten Jazzthetikausgaben (4): It´s a lazy day
von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags: David Torn, Jazzthetik | 6 Comments
6 Comments
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Lajla:
Vorausgesetzt es ist keine Fiction: wart ihr so apolitisch? Die Kinder der Kommune I haben über Freiheit, Glück und Mut nachgedacht. Meine späteren WG Genossen zerrieben sich am sozialistischen Traum.
Wir gingen auf die Antijazzfeste in Berlin, wo Gitarren mit zersplitterten Gläsern bedient wurden oder aus und mit Telefonbüchern Musik-Geräusche produziert wurden. Worüber haben wir damals nicht nachgedacht, um zu erklären, wo wir heute sind?
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Martina Weber:
Auch eine erlebte Geschichte ist immer Fiktion, in gewisser Weise, alles fragmentarisch. Jede Generation definiert ihren Umgang mit Politik anders, wir sind hier nicht in den 70er Jahren. Es geht um eine Audiokassette, die kein Erinnerungsstück ist. Und doch ist sie eins, auch wenn der Text behauptet, dass sie keins ist.
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Michael Engelbrecht:
So many assholes from the late 60’s and 70’s playing politics, being dumb like bread, betraying all their socialist ideals with every career call. Marxistische Gruppe, RCDS, MSB Spartacus, die grössten Idioten rechts und links. There are exceptions, and there are scumbags.
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Martina Weber:
Ich habe auch über Freiheit, Glück und Mut nachgedacht, Lajla.
Und ich tue es immer noch, jeden Tag :)
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Lajla:
Martina, Respekt!
Und wer Sonic Youth auch unter Eiderentenfedern hört, bekommt eine politische Ladung ab.
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Martina Weber:
Ich hatte den diamond sea mitten in der Nacht übers Notebook gehört, extrem leise, denn das Haus ist so hellhörig und in der Wohnung nebenan schläft ein kleines Mädchen. Nachmittags spielt sie manchmal ein bisschen Xylophon. Aber mit dem diamond sea wäre ihre musikalische Früherziehung etwas zu progressiv. Ich würde es gern mal sehr laut hören. Ein Schallschutzraum, das ist auch so ein unerfüllter Wunsch, schon lange.