Lucinda Williams: The Ghosts of Highway 20
Daheim liegt noch die Kopie eines Filmes, in dem fünf Fremde, die einizig die Liebe zu Jack Kerouacs „On The Road“ verbindet, auf Spurensichtung gehen, quer durch die USA. Keine Ahnung, ob sie dabei auch den Highway 20 bereisten, eine Strasse, deren Orte kaum weniger geschichtsträchtig sind als die vielzitierte Route 66. Ihre jungen Jahre verbrachte Lucinda Williams, die mittlerweile 62 Jahre alt ist, an diversen Orten des Highway 20 (Texas, Louisiana, Mississippi, Georgia, Alabama) – und der Titel ihres neuen Albums könnte nicht trefflicher sein. Kein kurz heraufbeschworenes Idyll, das nicht von einer Szene zur nächsten seelische Dunkelkammern öffnet. Das Schicksal der Mutter, aufgewachsen bei knüppelharten christlichen Funfamentalisten, die tragische Auflösung der Welt ihres Vaters (Alzheimer) – das Private und die Mythen, die Historie und ihre Gespenster, mischen sich in luftigen, dichten Texturen: die Landschaften lassen genug Raum zum Atmen (was bitternötig ist), und es ist der Kunst von Lucinda Williams und ihrer Mitstreiter (u.a. Bill Frisell und Greg Leisz) zu verdanken, dass man sich mit Haut und Haar auf diese Songs und Atmosphären einlassen kann: ein expressiver Gesang voller Zwischentöne, entspannte Intensität, ein organischer Mix von Country, Blues, Southern Soul und einer Prise Jazz, die nie sattsamen Mustern folgt, sondern einzig und allein den einzelnen Geschichten. Der gelackte Ergriffenheitsgestus einer Adele ist ein banaler Witz des Zeitgeistes gegen die Dämonen und Drifter, die Liebenden und Sterbenden von „The Ghosts of Highway 20“. Dass dieses Kompendium gesammelten Schmerzes auch etwas Trostspendendes und Heilendes hat, gehört zu den Paradoxien eines solchen Albums.
– Michael Engelbrecht, geschrieben am 20. 12. im IC zwischen Hamburg und Husum