Wenn der Tempo mit dem Jukebox-Man kommt …
Am Anleger warten nur wenige Insulaner, die eines der letzten Schiffe dieses Jahres auf die Insel nehmen wollen. Bald würde bis Anfang März nächsten Jahres kein Schiff mehr die Insel anfahren, dann würde es nur noch den Weg durch das Watt mit dem Traktor oder der Pferdekutsche geben.
Meinen Tempo hatte ich in der Nähe des Hafens geparkt, die wichtigsten Werkzeuge für die Wartung einer NSM-Jukebox in die Tasche gepackt, dazu ein paar Ersatzteile, Schleppkabel, Flachriemen, sogar einen kompletten Laufwagen hatte ich eingesteckt, weil B., der Wirt, den ich besuchen wollte, mir mitgeteilt hatte, mit der Plattenauswahl der NSM-Jukebox würde irgendwas nicht stimmen.
Nebel, wo man nur hinschaut. Die Überfahrt auf der nahezu menschenleeren Fähre gleicht einer Fahrt auf einem Geisterschiff. Spiegelglattes Meer, es regt sich kein Lüftchen. Ich stehe als einziger auf dem Deck. Ich muss an Siegfried Lenz denken, wie grandios er gerade diese Situationen beschreiben konnte. Schattenhaft erscheint die Insel vor dem Schiff.
Auf der Insel: nicht ein Restaurant, nicht ein Kiosk hat geöffnet, keine Trinkhalle oder Kneipe lädt zum Verweilen ein. Auch die Turmkneipe hat geschlossen, erst nach heftigem Wummern gegen die schwere Eingangstüre kommt B. angeschlurft und öffnet. Immerhin, er freut sich, mich zu sehen. Kaffee gefällig? Na klar. In gewohnter Ecke steht die verlassene, dunkle, schweigsame Box. Die aufgestellten Stühle verbreiten nicht gerade eine einladende Atmosphäre. Okay, ich bin ja auch nicht zu einem gemütlichen Plausch eingeladen worden, sondern um zu arbeiten. Also ans Werk.
Es braucht tatsächlich einen neuen Laufwagen, ich würde versuchen den alten zuhause aufzuarbeiten. Die Box muss gereinigt werden, das Übliche eben. Nach zweieinhalb Stunden erst bin ich fertig. B. hatte mich solange unterhalten, den neuesten Inselklatsch erzählt und mich mit Kaffee versorgt. Noch habe ich eine gute Stunde Zeit, bis das Schiff zurückfahren würde. B. hat die grandiose Idee, mich zum Fischerfrühstück (Bratkartoffeln, Spiegelei und Krabben) einzuladen.
Danach trinken wir noch einen Talisker (Distillers Edition 1989) – ein unglaublicher Malt – und unterhalten uns über Musik. B. mag auch so gerne persönliche Hitlisten, wir verraten uns gegenseitig die eine oder andere Platte, die den Sprung in die Jahreshitparade schaffen könnte. B. hat plötzlich die Idee, dass sich jeder von uns beiden eine Lieblingsplatte und davon ein Lieblingsstück wünschen dürfe, aktuell müsse sie sein, in diesem Jahre erschienen, dank Internet würden wir die Platte dann hören können.
Ich überlege, eigentlich wäre nur ein einziges Stück in dieser nebligen, einsamen Saison-Schluss-Atmosphäre passend, ein Musikstück, das uns beiden in dieser verlassenen Kneipe, bei ausgeschalteter Jukebox, bei aufgestellten Stühlen, an unserem kleinen Stammplatz am Fenstereck gefallen würde: Sufjan Stevens „The Only Thing“ von dem Album Carrie & Lowell.
Unterdessen hat B. seinen Titel bereits im Netz gesucht und schon erklingt der Marisa-Anderson-Song: „House Carpenter / See That My Grave is Kept Clean“. Was für ein wunderschönes Gitarren-Solo-Stück. Mit Sufjan Stevens´ „The Only Thing“ im Ohr verlasse ich die Turmkneipe und verschwinde im Nebel in Richtung Hafen.