Der hundertste Plattenschrank … Keine Frage, über wen und über welches Werk da geschrieben werden muss. Der Komponist, der Musiker, der für mich über allem schwebt und nach dem lange niemand anderer kommt. Kennengelernt 1973 im Herbst, erstes Semester: als Orgelnachspiel ertönt nach einem Gottesdienst Musik eines Komponisten, von dem ich bis dahin nie gehört habe: Olivier Messiaen. Wie entgeistert erklimme ich die Empore und frage den Organisten nach dieser unerhörten und nie gehörten Musik. Es entwickelt sich eine kurze, aber intensive musikalische Freundschaft. Ich darf während seiner Orgelkonzerte die Register der Orgel bedienen, die Noten umblättern und lerne dabei ungeheuer viel über diese mir gänzlich neue Musik. Ich entsinne mich an eine wunderbare Orgelnacht. Ich wollte unbedingt La Nativité du Seigneur als Bandaufnahme haben. Also trafen wir uns nach Mitternacht, zur nächtlichen Ruhestunde in der riesigen Kirche. Im Altarraum baute ich mein Uher-Variacord auf, brachte meine extra für diesen Anlass gekauften sündteuren Mikrophone in Stellung und schaltete alles ein, kletterte auf die Empore und dann wurden die 9 Mediationen aus dem Jahre 1935 so hinreißend gespielt, dass ich noch heute meine helle Freude an diesen Aufnahmen habe.
In den letzten gut 40 Jahren habe ich wahrscheinlich die meisten Werke von Messiaen gehört, wobei mir die Orgelmusik besonders gefällt. Einer meiner größten Plattenschätze dürfte wohl die dicke Messiaen-Orgel-Box sein, Einspielungen seiner wichtigesten Orgelwerke von Almuth Rössler. Natürlich befinden sich auch Aufnahmen des Meisters selber in meinem Plattenschrank. Neben den Orgelwerken begeistern mich aber durchaus auch Messiaens Klavier- und Orchsterwerke. Unter seinen Werken, die mich neben den Orgelwerken vor allem begeistern findet sich eine Komposition, die Messiaen in der Gefangenschaft, im Lager Stalag VIII-Görlitz unter widrigsten Umständen geschrieben und mit Gefangenen und vor Gefangenen am 15. Januar 1941 uraufgeführt hat: Quatuor Pour La Fin Du Temps, das Quartett für das Ende der Zeit, mit Olivier Messiaen am Klavier, Etienne Pasquier (Cello), Jean Le Boulaire (Violine) und Henri Akoka (Klarinette).
Ein unglaubliches Stück Musik, dessen Entstehungsgeschichte und musikalischer Hintergrund niemand besser dargestellt hat als Richard Powers in seinem jüngsten Buch Orfeo (Frankfurt 2014), ein Buch, das ich an dieser Stelle unbedingt empfehlen möchte. Ein ganz großer Roman, in dem Musik im Mittelpunkt steht. Unter anderem erzählt Powers von den Umständen der Entstehung der Komposition von Quatuor Pour La Fin Du Temps (Orfeo S.147-S.164). Über die Uraufführung im Lager am 15.Januar 1941 schreibt er u.a.:
Musik schwebt zwischen den dichtgepackten Reihen, durch die im Schnee versunkene Baracke, über die letzte Windung des Stacheldrahtes, der dieses Lager abschließt, hinaus. Der Satz ist zu Ende, Husten überall. Vor Kälte steife Zuhörer regen sich auf den Bänken, dann beginnt der dritte Satz. Dies ist eine Neufassung der Fantasie für Soloklarinette, die Akoka auf jenem freien Feld bei Nancy vom Blatt gespielt hatte, vor so langer Zeit. Der Abgrund der Vögel. „Der Abgrund ist die Zeit“, erklärt Messiaen, „mit ihrer Düsternis und Erschöpfung. Die Vögel sind das Gegenteil von Zeit. Sie sind unsere Sehnsucht nach Licht, nach Sternen, nach Regenbogen und nach jauchzenden Liedern.“ (Orfeo S.158).
Powers widmet aber nicht nur Messiaen viele Seiten, auch der Entstehung der Kindertotenlieder von Gustav Mahler (Orfeo S.49-S.59), der vierten und fünften Symphonie von Schostakowitsch (S.373ff), oder dem Werk von John Cage.
Aufnahmen gibt es von Messiaens Quatuor pour la fin du temps natürlich sehr viele, in meinem Plattenschrank befindet sich ein ziemlich alte Aufnahme aus dem Jahre 1979, die mir aber sehr, sehr gut gefällt: Danie Barenboim (Piano), Luben Yordanoff (Violine), Albert Tetard (Cello) und Claude Desurmont (Klarinette).
Abschließend möchte ich noch einmal Messiaen zitieren: „Wenn sich überhaupt ein Grund dafür benennen lässt, dass ich dieses Quartett komponiert habe, dann war es, weil ich dem Schnee entkommen wollte, dem Krieg, der Gefangenschaft, mir selbst entkommen. Der größte Gewinn daran war für mich, dass ich unter dreihunderttausend Gefangenen vielleicht der einzige war, der nicht gefangen war.“ Und über den Abend im Januar 1941 schreibt Messiaen: „Nie wieder hat jemand eins meiner Werke mit solcher Aufmerksamkeit gehört.“ (zitiert nach Richard Powers: Orfeo S.163f)
Und hier noch ein paar wenige Plattentipps, Messiaen betreffend:
Olivier Messiaen: Orgelwerke, Messiaen spielt an der Orgel Sainte-Trinité (1957)
Olivier Messiaen: Das Orgelwerk – Gesamtausgabe Almuth Rößler (1973)
Olivier Messiaen: Livre du Saint Sacrement Almuth Rößler ( Ursina 2002)
Olivier Messiaen: Visions de I´Amen Alexandre Rabinovitch & Martha Argerich
(EMI 1990)
Olivier Messiaen: Concert Á Quatre: Yvonne Loriod, Mstislav Rostropovich, Catherine Cantin & Heinz Holliger (Deutsche Grammophon 1995)
Olivier Messiaen: Mediations Sur Le Mystére De La Sainte Trinite Christopher Bowers-Broadbent (ECM 1995)
Olivier Messiaen: Préludes pour Piano Alexander Lonquich (ECM 2004)
Olivier Messiaen: Quatuor pour la fin du temps u.a. mit Olivier Messiaen (Deutsche Grammophon 1979)