Jesus hatte eine grüne Kiste dabei. Es war Sommer, im Schulhof versammelten wir uns um ihn. Abiturzeit. Jesus öffnete die dunkelgrüne Box, und sagte: „Sagenhafte Musik. Nur Klavier. Tim Buckley schwärmt von diesem Pianisten. Einer, Jungs, der auch auf dem Weg zu den Sternen ist. Hört euch Starsailor an!“ Jesus hatte gesprochen. In jeder Schule gab es einen, der wegen seiner wilden Matte mit Mittelscheitel, Jesus genannt wurde, wenn er zudem nur über ein Mindestmass von Charisma verfügte. Jesus hatte Ahnung von Musik, und eine scharfe Braut am Start. Da, im Pausenhof, waren wir aber noch schärfer darauf, diese Klaviermusik auf den Plattenteller zu legen. Wir kannten Keith Jarrett und die tollen Alben „Soundtrack“ und „Forest Flower“, bei denen er in der Band von Charles Lloyd Und seine wahnwitzige elektrische Pianomusik in Miles Davis‘ Band. Wie Miles hatte auch Lloyds Gruppe schon lange das Rockpublikum erreicht.
Bald liefen Jarretts Solokonzerte aus Bremen und Lausanne endlos auf unseren Plattenspielern. Gleichberechtigt neben „Atom Heart Mother“, „Thick As A Brick“ und „Sgt. Pepper“. Es waren die frühen Jahre von ECM. In den USA wunderte man sich über die Allianz des Pianisten Keith Jarrett mit dem deutschen Produzenten Manfred Eicher. Man sollte sich bald noch viel mehr wundern.
Ich weiss noch, wie ich damals dachte: bei dem exquisiten Künstlerkarussell des Münchner Produzenten müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn Keith Jarrett nicht bald die Wege von Jan Garbarek kreuzen würde. Und genau das passierte. Ich sah die Platte mit dem vier Luftballons zum ersten Mal in einem kleinen Dortmunder Plattenladen, „Belonging“, Jarretts europäisches Quartett mit Jan Garbarek, Palle Danielssonund Jon Christensen. Adrenalin schoss durch den Körper, eine halbe Stunde war ich zuhause, legte ich die Platte auf, und war sprachlos.
Keith Jarrett: Long as you know you’re living yours
Zwei Studioalben gibt es von der „Belonging“-Band. Ich erinnere mich, wie Palle Danielssson mir bei einem Gespräch Ende der Neunziger Jahre erzählte, er sei im Grunde immer noch fassungslos, wieso diese Band vor dem Ausklang der Siebziger Jahre schlicht aufhörte zu existieren. Wild und exstatisch waren die Live-Auftritte im Village Vanguard, dokumentiert auf „Nude Ants“, und erst vor einiger Zeit holte Manfred Eicher unveröffentlichte Livedokumente aus Japan aus dem Archiv, Tokyo, 1979. „Sleeper“ heisst das Opus, und hinterliess zurecht ein mächtiges Beben in der Jazzwelt. Mit einer begrenzten Zahl von Kompositionen brach man scheinbar Abend für Abend in unbekannte Regionen auf, das Gegenteil von Repertoiremusik.
Apropos Anti-Repertoire-Musik: drei Jahre zuvor, wiederum in Tokyo, aber auch in Osaka, Sapporo, Kyoto, Nagoya. Japaner sind bekanntermassen musikbesessen, und damals im November 1976 bekamen sie die volle Dröhnung. Der Produzent Manfred Eicher und der Toningenieur müsssen mächtig ins Schwitzen geraten sein, stets hellwach, denn sie wusste ja nie, was Jarrett, allein mit seinem Flügel, veranstalten würde. Es gab keine Redundanzen, keine sich wiederholenden Spannungsbögen – jedes dieser Konzerte wurde aufgezichnet, und erschien, auf zehn Schallplatten verteilt, unter dem Titel „Sun Bear Concerts“.
Wolfgang Sandner widmet diesen fünf Konzerten in seiner jüngste erschienenen Jarrett-Biografie die gebührende Aufmerksamkeit. Irgendwann, schreibt er über den Auftritt in Tokyo, schien er lange Zeit in sich versunken zu sein, er verzichtete auf expressive Gesten und virtuose Ausbrüche, bis er von einem kleinen Melisma, einem Ostinato verführt wird, diese Versunkenheit zu verlassen, und sich auf einmal wieder alle möglichen überraschenden Wendungen ereignen: „Und er kann nicht anders, irgendwann taucht er in einen blue-note-getränkten Rhythmus zwischen Gospel,und Worksong, der ihn zurückbringt zu den Anfängen des Jazz und der afro-amerikanischen Trance-Kultur.“ Hören Sie die Zugabe, die Keith Jarrett in Tokyo gab, eine Art des Ausschwingens nach der Stunde des Ekstatikers …
Keith Jarrett: Tokyo Encore
Keith Jarrett: Windsong
Keith Jarrett war ein klassisch ausgebildeter Pianist, und neben Interpretationen von Werken Klassischer Musik, hatte er bei seinem Produzenten alle Freiheiten, die Grenzgebiete Moderner Klassik und improvisierter Musik zu erkunden. Third Stream nannte man das in Jazzkreisen, das konnte Jarrett mal kitschig und überladen geraten wie auf dem Album „The Celestial Hawk“ – aber was für eine Meisterwerk gelang ihm Mot dem Album „Luminessence“, komponiert für Jan Garbarek und Streichinstrumente. Jarrett selbst spielt da keinen Ton.
Neben seinem europäischen und amerikanischen Quartett (zu letzterem komme ich noch) waren die ohne Netz und doppelten Boden, stets das Scheitern als Option beinhaltenden, Solokonzerte das Zentrum des Jarrett’schen Musizierens. Viele von Ihnen haben das berühmteste Solokonzert im Regal stehen, und man weiss, dass dieses Ereignis (eine der meistverkauftesgen Jazzplatten aller Zeiten) an missliche Umstände geknüpft war: Jarrett war überhaupt nicht glücklich mit dem alles andere als perfekt gestimmten Klavier.
Wolfgang Sandner fragt sich in aeiner Biografie sinngemäss, wie hypergenial „The Köln Concert“ g e k l u n g e n haben würde, hätte er es auf einem vollkommenen Instrument gespielt hätte. Meine Antwort: es wäre womöglich überhaupt nicht so ein grandioses Stück Musik geworden. Jarrett musste sich ja auf diesen Gegner einstellen, auf die Tücke des Objekts, vielleicht spürte er, er könne den „sperrigen Widersacher“ nur überliste mit etwas Atemraubenden, mir einer Überfülle an Ideen, einer anderen Körperlichkeit … aber das ist „Psycho Fiction“ …
Eine meine Lieblingssoloplatten des Amerikaners verdankt ihr Entstehen auch besonderen Umständen. Keith Jarrett und Manfred Eicher waren in Paris, im Mai 1976, im berühmten Davout Studio, um Musik für einen Soundtrack aufzunehmen, eine kleine Gefälligkeit für Jean Luc Godard. Die Wege von Eicher und Godard sollten sich später noch öfter kreuzen, eine andere Geschichte. Die Arbeit war schnell getan, Jarrett und Eicher hatten jede Menge Studiozeit übrig, man war von dem Klang des Instruments begeistert, und entschloss sich aus dem Moment heraus, Musik aufzunehmen.
Es enstand das Doppelbum „Staircase“. Wolfgang Sandner schreibt dazu: „Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. (…) Der zweite Teil des Titelstücks ist ein einziger Klangrausch, bei dem dennoch jeder Ton für sich erkennbar bleibt. Dann aber verdichtet sich das polyphone Spiel Jarretts in einer Weise, als erklängen die Glocken aller orthodoxen Kirchen im altslawischen Kiew auf einmal. Eigentlich reichen zwei Ohren nicht ais, alles zu erfassen, was da aus dem Korpus dringt.“ Versuchen wir es trotzdem, mit zwei Ohren …
Keith Jarrett: Staircase (2)
Mit Keith Jarrett durch die 70er – die Radionacht Klanghorizonte nähert sich lamgsam der Morgendämmerung. Ich bin am 18 August wieder hier, ab dann sind die alle zwei Monats zu hörenden Klanghorizonte fünf (!) Stunden lang, und gehen von 1.05 Uhr bis 6.00 Uhr. Das wird ein Spass werden. Die Milestones wandern wieder in die Abendstunden, dort stelle ich Ihnen Keith Jarretts „Solo Concerts Bregenz – München“ vor aus dem Jahre 1981. Schliesslich war der Zauber Ende der Siebziger noch lange nicht vorbei. In diesem Jahr ist Keith Jarrett 70 Jahre alt geworden, und das jüngst veröffentlichet Pianosoloalbum CREATION zeigt, in aller Ruhe und Intensität, dass sein kreatver Elan keineswegs versiegt ist.
Zum Abschluss DAS Meisterwerk des amerikanischen Quartetts von Keith Jarrett, mit Dewey Redman, Charlie Haden und Paul Motian. The Survivors‘ Suite. Es enstand im April 1976 im Tonstudio Bauer in Ludwigsburg. Und auch wenn ich Wolfgang Sandners jüngst erschienene Jarrett-Biografie aufgrund leicht überbordender Heldenverehrung teilweise nur mit einem Keith Jarrett-artigen, aber nicht lustvollen, Stöhnen goutieren kann – bei den Beschreibungen etlicher Klassiker des Jarrett-Werkeverzeichnisses liegt er, aller barocken Sprachfülle und ungebremster Euphorieattacken zum Trotz, in der Sache richtig. Was an Jarretts Orgelspiel in Ottobeuren allerdings so zauberhaft sein soll, werde ich nie begreifen. Und noch eins: Ikonisierungen behindern die natürliche Begegnung mit kreativen Schöpfungen, man miss nicht gleich immer alles an die Seite der Mona Lisa rücken. Etwas weniger Weihrauch schärft die Sinne.
Aber nun zur Survivors Suite. Hier durchdringen sich afrikanisches Erbe, Free Jazz, Gospelflair, tiefe Versenkung, reinste Melodienlust und hymnische Ekstase. Ich hatte das Glück, dieses Quartett bei einem seiner letzten Auftritte beim Jazzfestival OST-WEST in Nürnberg zu erleben, und es wird mir, obwohl ich ziemlich weit hinten sass, als eines der intensivsten Konzerterlebnisse meines Lebens im Gedächtnis bleiben. Am Mikrofon bedankt sich Michael Engelbrecht für Ihr Dabeisein. The Survivors Suite. Beginning.
Keith Jarrett: The Survivors Suite
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Nachklang: Ich habe nur wenige Kürzungen und Änderungen vorgenommen. Radiomoderationen, improvisiert oder notiert, unterscheiden sich zum Glück von Texten für Zeitschriften, Bücher etc. So entgehen einem beim Lesen solcher Transkripte natürlich jede Menge Zwischentöne.