Wenn nicht der Tempo mit dem Jukebox-Man kommt, sondern der Mazda K 360 …
Schon vor dem Öffnen der Kneipentüre erkannte ich die Musik, die im Inneres des Lokals lief: eine selten gehörte Nummer der Gruppe Free, „Mr Big“, Live at Fairfield House in Croydon 1970. Ja, dachte ich, hier bei Henry in der Hafenkneipe würde sich die Wurlitzer wohlfühlen. Free hatte ja schon richtig gute Musik gemacht, damals, man musste eben mal über „All Right Now“ hinaussehen.
1970, das erinnert mich an einen sechswöchigen Aufenthalt in Edinburgh. Ich weiß nicht, wie oft ich am Abend Richtung White Elephant gelaufen bin, einem Musikclub in der Innenstadt. Diese Disco wurde tatsächlich als Club geführt, man musste Mitglied werden, um Eintritt gewährt zu bekommen. Gegen 23:00Uhr gab es eine Kleinigkeit zu essen, der ganze Aufwand nur deshalb, um die Polizeistunde nach hinten verschieben zu können. Eine Gruppe spielte dort öfter, leider habe ich mir den Namen der Truppe nicht gemerkt, aber ich weiß noch, sie spielte Musik der Gruppe Free nicht unähnlich. Was war das für ein schöner Sommer in Edinburgh: der Arthur´s Seat, die Forth Bridge, die Ausflüge in das Hochland …
Schluss mit der Nostalgie, zurück in die jüngste Vergangenheit, nach Hörnum/Sylt, die Fahrt mit diesem Mazda K 360 und seinen 16 PS und meine Wurlitzer 2150 auf der winzigen Ladeflüche festgezurrt, eine schwere, schwarze Plane schwungvoll darüber geworfen und festgezogen, um die Box möglichst ohne Wasserschaden zu ihrem Zielort zu befördern. Aber die Wolken hatten sich zurückgehalten, auch die Fahrt im Autoreisezug von Niebüll bis Westerland war bestens verlaufen, freilich, etwas nervig nur, die vielen neugierigen Fragen nach Auto und Ladung. In Westerland angekommen ging es dann – mit Rückenwind bin ich doch tatsächlich 65 km/h gefahren – Richtung Hörnum.
Ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch auf Sylt … die Strandwanderung mit Martina, Treffen mit Lajla, die Insel-Besichtungstour mit Wolfram: Wir fuhren zunächst nach Norden, nach List, bzw. Gosch, überall Gosch, kein Ort für eine Jukebox und dann zurück mit seinem flotten Audi A3 nach Hörnum. Es war doch das Wochenende, an dem 96 gegen Augsburg, auch noch in Augsburg gespielt hatte, Michael, Wolfram und ich hatten uns das Spiel in einer Hotelbar angeschaut. Ich hatte schon in Aussicht gestellt, dass ich, sollte Hannover verlieren, wohl einen Abend in den Dünen verbringen würde, begleitet lediglich von einer Flasche kühlen Weißweins. Und dann doch gewonnen. Fahrt mit Michaels Leihwagen zum Abendessen, begleitet von Musik aus der neuen „Gary Peacock“: Now This. Tolle Platte!
Zurück nach Hörnum, in Henrys Kneipe am Rande des Hafens, direkt an der Nordsee gelegen. Die Box war entladen, ein geeigneter Stellplatz gefunden, die Aufhängungen entsichert, die Jukebox justiert, da erzählte mir Henry, dass er gerade Michael Chabon Buch „Telegraph Avenue“ (Köln 2014) lesen würde. Da außer drei Paaren, die mit sich selbst genug zu tun hatten, niemand im Raum anwesend war, wollte er mir seine beiden Lieblingspassagen aus dem Buch vorlesen. Also, es ginge in dem Buch um einen kleinen Jazz-Plattenladen, – Brokeland Records – der zwar gut sortiert und exklusiv bestückt am Rande der Pleite überlebe. Die beiden Besitzer, Net Jaffe und Archy Stallings würden nun durch die drohende Eröffnung eines Megastores in ihrer Existenz bedroht. Ähnlich, so Henry, ginge es ihm mit seinem Lokal auf Sylt schließlich auch. Er fühle sich doch auch in seiner Existenz bedroht durch Hotelketten und Luxusrestaurants und er hoffe, dass durch seine Idee mit der Wurlitzer und der konsequenten 70er-Jahre-Bestückung mehr Gäste in seine Kneipe gelockt würden.
Einmal, so Henry, war Archy am Ende, war nahe dran, den Laden aufzugeben und sich womöglich als Geschäftsführer der Plattenabteilung im neuen Megastore anheuern zu lassen: „… aus der dem Untergang geweihten Höhle von Brokeland Records zu kriechen, den düsteren Zukunftsaussichten auf endlose Mülldurchsuchungen und Flohmärkte zu entkommen, wo jeder Tag wie eine Platte auf den nächsten sank, am Ende des Tages die Kasse mit ihrem flachbrüstigen Bon, mit einer Kiste voll zerkratzter, schimmliger Schätze nach Hause zu kommen, nur damit die eigene Frau mit Lehrerstimme einen anhand von Zitaten aus einem Selbsthilfebuch über den moralischen Imperativ belehrte, alles aus dem eigenen Leben zu tilgen, was nicht wesentlich war …“. Und dann kommt der Investor, der Chef zahlloser Megastores doch tatsächlich in den Laden: „Er wusste, dass Nat und er sich finanziell in einem immer engeren Kreis drehten. Und da kam dieser Typ daher, der sich selbst in Zeiten, da die Plattenketten dichtmachten und ungezählte Gratis-Downloads in die Hosentasche passten, der es sich selbst jetzt leisten konnte, einen hammermäßigen Plattenladen zu eröffnen, fünfmal so groß wie Brokeland und zehnmal so umfangreich, der es sich des Ruhms und der Tugend zuliebe leisten konnte, Archy für alle Zeiten pleitegehen zu lassen, unerschöpflich finanziert durch sein Medienimperium, sein lizenziertes Abbild, sein alchemistisches Händchen mit Getto-Immobilien. Wehte an einem Samstagnachmittag bei Brokeland herein, ein König in Zivil, um seinen Stiefel in den Nacken der Eroberten zu setzen.“
Ich verstand Henrys Ängste, sortierte Platten in den Plattenkranz ein, Testphase, alles gut, alles lief bestens. Auch die Platten-Vorschläge von Jan, Uwe und Michael sind berücksichtigt worden. Gerade wollte ich den Besuch bei Henry mit einem Lagavulin abschließen, da rückte Henry noch mit zwei Plattenwünschen heraus: Midnight Theme (Fraternity 1975) und Redbonin´, eine Platte, die es im Juli 1972 bis auf Platz 32 der R&B-Charts geschafft hätte. Genaueres wusste Henry nicht, beide Plattentipps hätte er seinem Buch Telegraph Avenue entnommen. Na gut, beide Singles besitze ich nicht, ich werde mal Downtown-Gallery kontakten.