Keith Jarrett lernte ich durch Jesus kennen. Und das, obwohl ich schon lang nicht mehr in die Kirche ging. Er brachte die dunkelgrüne Kiste „Concerts Bremen / Lausanne“ in die Schule mit. Jesus hatte eine sehr schöne kleine Freundin, die ich aus der Ferne bewunderte. Gegen den Archetyp dieses in sich ruhenden Hippies mit dem wallenden Haar wäre ich damals als eher nervöser Romantiker nicht angekommen. Aber er brachte uns die Musik – und da begann vieles! Lang ist es her. The times they are a’changin‘.
Ich hätte nie gedacht, das mich noch jemals ein Keith Jarrett-Trio aus den Schuhen hauen könnte, aber hier geschieht es – natürlich keine der arrivierten, ihren Dringlichkeitswert lang ausgereizten Standards-Erkundungen des ewigen Trios mit Peacock und DeJohnette, die in der Unsumme ihrer Veröffentlichungen vielleicht fünf essentielle Alben rausgehauen haben: Standards, Vol. 1, Standards, Vol. 2, Changes, Changeless (das fünfte will mir gerade nicht einfallen). Wie man auf die Idee kommen kann, als Künstler kaum noch die Tin Pan Alley (und andere museale Zonen) zu verlassen, und ein halbes Leben der perfekten Version von Body and Soul hinterherzujagen, will mir genau so wenig in den Kopf, wie Alt-Hippies, die sich standhaft weigern, aus dem Hotel California auszuchecken und Radiohead für ein Ratequiz der BBC halten.
Aber hier, im Juli 1972, im Hamburger Jazzworkshop, mit Michael Naura im Hintergrund, reissen Keith Jarrett, Charlie Haden und Paul Motian ein Feuerwerk ab, in dem die Musik spürbar auf Entdeckungsreise ist. Kleinste Motive des noch in der Zukunft lauernden „Köln Concert“ materialisieren sich für Momente. Entstanden nach dem Soloklassiker „Facing You“, und vor der Gründung des „American Quartet“ (mit Dewey Redman und einem frühen Statement wie „Fort Yawuh“), durchdringen sich kollektive Improvisationen, Solotänze auf den Tasten, Hadens elementares Melodiegespür und Motians Farbenspiele und Pulsierungen: Jarretts Lustschreie und Seitensprünge mit dem Saxofon (schräg und wundersam), Hadens ergreifender „Song For Che“, den sich später auch Robert Wyatt vornahm. Ach, es ist ein Fest. Als Bootleg kursierte es schon lang, so gut klang es noch nie, Manfred Eicher und Jan Erik Kongshaug haben in Oslo das Bestmögliche rausgeholt.
Auf einem Schnappschuss während dieser kleinen Hamburger Sternstunde lächelt Keith Jarrett einmal wie ein grosser Junge. Er spürt, man ist aufregenden Dingen auf der Spur ist – die Zeit der Selbstinzenierung, der „Bayreuthisierung“ seiner Kunst und unnötigen Publkumsbelehrungen scheint weit entfernt: schade, daß Jahre des Aufbruchs so oft ihre eigene Restauration nach sich ziehen. Die „Hall of Fame“ ist ein totlangweiliger Laden der Fremd- und Selbstbeweihräucherungen. Ruhm ist eine Falle, die leicht satt macht. Hier in Hamburg springt einen der Lebenshunger aus jedem Ton an. Es war einmal. Weil das alles sowas von vorbei ist, Haden und Motian nicht mehr unter uns weilen, musste das Cover geradezu in schlichtem Schwarz daherkommen. Das war dem Zeitensprung geschuldet, schlicht ist hier nämlich gar nichts, nicht mal die einfachste folkloristische Melodie.